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Berlin: Ursula Weidauer (Geb. 1919)

Sie feierte, während andere Mütter jammerten und sparten.

Andere Mütter sprachen unentwegt von ihrem Elternglück, von ihrer natürlichen Hingabe an die Kinder. Erst bedeckten sie die rosigen kleinen Körper unaufhörlich mit ihren Küssen und schreckten auf bei jedem Jammern, später warteten sie zu Hause mit dem Mittagessen und halfen ihnen dann mit sanften Worten bei den Rechenaufgaben. Auf die Kinder von Ursula Weidauer wartete selten jemand. Manchmal setzten sie sich auf die Treppenstufen, bis es dämmerte.

Ursula war gerne Frau, aufs Äußere achtete sie sehr. Sie zog schicke Kleider an, schminkte sich, lackierte ihre Fingernägel rot und die Fußnägel ebenso. Hausfrau und Mutter war sie – weil es sich so gefügt hatte. Sie stand früh auf und kochte eine Kanne Kaffee, auch für die Kinder. Milch gab es manchmal – weil der Familie nach dem Krieg Milchmarken zugeteilt wurden. Sie putzte nur, wenn die Verwandten aus Zwickau kamen.

Es gibt ein Foto von Ursula, zwölf oder dreizehn ist sie da und ihre Arme und Beine sind ganz mager; auf der Schwelle zwischen Mädchen und Frau aß sie wohl einfach nicht genug, vermutet ihre Tochter. Und es gibt ein Handarbeitsdeckchen mit einem Kreuzstichmuster, auf dem die Fäden vollkommen wirr verlaufen. Ursula wollte sich nichts sagen lassen, niemand sollte über sie bestimmen. „Wann kommst du nach Hause?“, fragte ihre Tochter sie einmal. „Willst du mich jetzt auch noch kontrollieren?“, antwortete die Mutter schroff.

Ihre eigenen Eltern, rechtschaffene Konditoren, hatte sie früh verlassen; die anständige Eintönigkeit, die ständige Kontrolle – sie musste weg von dort. Sie heiratete einen Musikstudenten, zog mit ihm nach Berlin und bekam zwei Kinder. Ihr Mann ging in den Krieg und kehrte nicht zurück. Er galt jahrelang als vermisst, bis Ursula ihn für tot erklären ließ. Sie begann zu arbeiten, als Verkäuferin in Lederwarengeschäften, in einem Laden nur für Alliierte, bei Wertheim. Wenn sie ein bisschen Geld übrig hatte, kaufte sie etwas Schönes, drei Porzellantassen oder 50 Gramm Kokosflocken, von denen jedes Kind zwei Stück bekam. Die notwendigen Dinge für den Haushalt waren ihr nicht so wichtig. Sie feierte, während andere Mütter jammerten und sparten, sie zog den Tisch im Wohnzimmer aus, stellte eine Flasche Kartoffelschnaps darauf, holte die Rommékarten und lud Nachbarn und Freunde ein. Sie sang fröhliche Lieder, Schlager, Arien, Volkstümliches. Sie richtete Silvesterfeste aus, ihre Wohnung stand ohnehin immer offen. Ursulas Tochter erinnert sich, dass sie im Buddelkasten saß und ein anderes Kind auf einmal rief: „Guck mal, da kommt deine Mutter!“ Den Gehstein entlang lief ein Paar, eingehakt, der Mann als Frau verkleidet und Ursula als Mann, mit einer Luftpumpe in der Hand, mit der sie in alle Richtungen kleine Windstöße blies, einfach so.

Als die sechziger Jahre da waren, und die Kinder sich mit Getöse von ihren Eltern lösten, wusste Ursulas Tochter nicht, wogegen sie sich auflehnen sollte. In einer Frauengruppe hörte sie Geschichten von Hausfrauenmüttern und staublosen Regalen und musterhafter Moral. Sie rief den Frauen der Gruppe zu: Ihr wollt es lockerer? Hättet ihr mal meine Mutter gehabt!

Ursula hat immer geraucht und getrunken. Sie schmückte und schminkte sich bis zum Schluss, erzählte ihre Geschichten am Ende vielleicht ein wenig zu häufig, ließ andere kaum zu Wort kommen. Ihre Tochter beobachtete, wie langsam, über die Jahre, das Leben aus ihr wich, ihre schönen langen Finger nichts mehr taten, als in ihrem Schoß zu liegen. „Was soll ich noch hier?“, fragte sie einmal. „Vielleicht gibt es noch etwas für dich zu tun“, antwortete ihre Tochter. Ursula überlegte einen Moment und sagte dann: „Meine Kleider abtragen.“

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