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Weniger Kunden, mehr Ruhe: S-Bahnchaos: Gewinner und Verlierer

Eine Woche S-Bahn-Notfahrplan – wer gehört zu den Verlierern, wer zu den Gewinnern? Ein Überblick.

KIOSKE UND LÄDEN: Keine Kundschaft, volle Regale, wartende Verkäuferinnen. Bäckereien, Supermärkte oder Kioske leiden besonders unter der S-Bahnmisere. „Hier ist nichts los“, sagt Angelika Ragoschke, Verkäuferin in einem Reformhaus am Zoologischen Garten. Weil die Bürodamen nicht mit der S-Bahn zur Arbeit kommen können, kaufen sie natürlich nicht mehr ihr Frühstück bei Ragoschke ein. Auch der Blumenhändler nebenan oder das Schokoladengeschäft direkt am Aufgang zu S-Bahn klagen über mangelnde Kundschaft. Kioskbesitzer am Bellevue sprechen gar von Umsatzeinbußen von bis zu 50 Prozent.

TICKETDEALER: Weil am Hackeschen Markt keine S-Bahn fährt, ist Marios Geschäftsstandort geschlossen. Und damit fällt sein Zubrot zur Stütze weg. Mario handelt mit gebrauchten Fahrscheinen. Jetzt steht er an der U-Bahnstation Eberswalder Straße. Mario ist nicht der Einzige, der hier steht. Drei weitere Ticketdealer buhlen um jeden potenziellen Fahrgast und deren Fahrscheine. „Dass die S-Bahn nicht fährt, macht unser Geschäft kaputt“, sagt Mario.

UNTERWEGS MIT HANDICAP: Hunderte Menschen warten am S-Bahnhof Ostkreuz. Ein alter Mann mit Rollator bahnt sich den Weg durch die Menschenmassen. Fünf Spanier hocken auf einem Haufen aus Koffern und Rucksäcken, warten ungeduldig auf den Anschluss. Daneben steht Silke Wagner. Die eine Hand am Kinderwagen, an der anderen zerrt Tochter Lisa. Sie alle wollen weiter. Richtung Spandau oder nach Schönefeld zum Flughafen. Wer nicht alleine reist, sondern auf Rollstuhl oder Krücken angewiesen ist, viel Gepäck oder Kinderwagen dabei, hat es schwer.

BERUFSPENDLER: Schön hat es der, der in diesen Zeiten nicht zur Arbeit muss. Wer nicht freibekommt und auch noch pendelt, leidet dagegen. In Spitzenzeiten wurden vom Amt für Statistik Berlin- Brandenburg über 300 000 Menschen gezählt, die frühmorgens hin zum Job und am Abend zurück nach Hause fahren. Im Moment könnten es ein paar weniger sein. Berufspendler gehören zu den größten Verlierern.

CLUBS: Dass die Bahn nicht fährt, könnte fast zum Ausgehverbot führen. Der Tape Club am Hauptbahnhof rechnet mit deutlich weniger Gästen. Selbst im Szeneladen Berghain munkelt man, dass durch den S-Bahnausfall weniger Leute ausgehen. Ganz zu schweigen von Goaparties an den Stadträndern. An einen kostenlosen Shuttlebus mit Freigetränken haben Clubbetreiber aber noch nicht gedacht.

BAHN-HOTLINE: Eigentlich sollte man diese Nummer gar nicht anrufen. Denn die derzeit beliebteste Hotline ist dauerbelegt. Oder man hat Zeit und Geld und bügelt nebenher die Wäsche, solange die Warteschleife läuft. Vielleicht gibt es deshalb keine Zahlen, wie viele S-Bahn-Nutzer sich bis jetzt beschwert haben. Trotzdem: Wer lange genug wartet, hört eine sanfte Stimme, die versucht zu helfen und auf jeden Fall jedem Ärger gerne zuhört.

RADHÄNDLER UND VERLEIHER: Die Mechaniker der Fahrradwerkstatt Schraubfinger freuen sich insgeheim über die S-Bahn-Krise. Immerhin hat der Fahrradhändler in Treptow satte Gewinne gemacht, seit zusätzliche Leute aufs Fahrrad umsatteln. Und das beim Reparieren und im Verkauf. Der Schraubfinger ist nicht der einzige Fahrradhändler, der zum Krisengewinnler wurde. Froschrad, Ostrad oder die Fahrradstation melden gute Umsätze. Ähnlich sieht es bei Flat Tyre Bikes aus. Die Touristen strampeln nämlich lieber über die Museumsinsel, zum Brandenburger Tor und Kurfürstendamm. Die Info-Tafeln der Bahn können die meisten sowieso nicht lesen.

TAXIS UND AUTOVERMIETER: Für wen es motorisiert sein muss, weniger anstrengend, dazu noch absolut trocken im unbeständigen Berliner Wetter, der bucht in der S-Bahn-Krise bei Autovermietungen oder winkt sich ein Taxi heran. Doch die Droschkenkutscher sind zurückhaltend, was den Erfolg ihres Gewerbes angeht; lieber meckern sie wie gewohnt über zu wenig Trinkgeld. Trotzdem: Für viele ist das Auto immer noch die zuverlässigste Alternative, wenn die S-Bahn nicht fährt. Autovermieter haben deutliche Zuwächse, vielfach aber nicht wegen des S-Bahn-Ausfalls, sondern weil viele Touristen in der Stadt sind.

PFERDEKUTSCHEN: Wer nicht zu Fuß gehen will, lässt sich kutschieren. Die fünf Pferdekutscher vor dem Brandenburger Tor können sich zurzeit nicht beklagen. Wer nicht versteht, wo die Bahn nun fährt, oder auch nicht, wann sie kommt, verlässt sich lieber auf den Gaul. Stilvolles Sightseeing inklusive.

SCHREBERGÄRTEN: Es grünt und blüht, stinkt und lärmt. Direkt am S-Bahnhof Lichterfelde Ost oder in Steglitz an der Bahntrasse haben hunderte Berliner ein paar Quadratmeter Grünfläche gepachtet. Städtischer geht es kaum. Viel zu oft haben sie sich über den Krach der Züge beschwert. Für einige Wochen haben sie jetzt Ruhe. Und echte Idylle im Großstadtdschungel.

UNTER DER S-BAHN-TRASSE: Guter Wein, edles Rinderhüftsteak, dazu das Rattern und Rumpeln der alten S-Bahn-Wagen. Mancher Gourmet hat genau deshalb einen Bogen um die Edellokale und Kneipen unter den Schienen gemacht, weil es ihm dort zu laut ist. Das ist ja erst mal passé. Die Restaurantbesitzer können sich also auf mehr stille Esser und Trinker freuen. Wo die Regionalzüge fahren, geht es zwar nicht ohne Rollgeräusche. Aber deutlich sanfter.

VERKEHRSPOLITISCHE SPRECHER: Am allermeisten freuen sich die verkehrspolitischen Sprecher. Ihre Meinung ist jetzt gefragt. Und deshalb ärgern sie sich auch nicht über jene Kollegen, die jetzt im Urlaub sind. Zum Glück sind sie da, wenn sie gebraucht werden. Und mal ehrlich, wer wusste, dass die Verkehrsfachfrau der Grünen Claudia Hämmerling heißt. Oder wie Verkehrssenatorin Ingeborg Junge- Reyer (SPD) aussieht. Wenn sie auch nicht mit Lobeshymnen überschüttet werden. Ihr Wissen ist jetzt jedenfalls gefragt.

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