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Berlin: Vermisst: Auf der Suche nach den verlorenen Menschen

Als Christian am frühen Morgen die Vierzimmerwohnung in Lichtenberg verließ, klang es nach einem alltäglichen Abschied. "Mama, tschüs, ich geh zur Schule", rief der 15-Jährige seiner Mutter zu, ehe die Wohnungstür ins Schloss fiel.

Als Christian am frühen Morgen die Vierzimmerwohnung in Lichtenberg verließ, klang es nach einem alltäglichen Abschied. "Mama, tschüs, ich geh zur Schule", rief der 15-Jährige seiner Mutter zu, ehe die Wohnungstür ins Schloss fiel. An diesem 16. Januar 1993 verschwand Christian H. Als Birgit H. am Nachmittag nach Hause kam, fand sie einen Zettel auf dem Küchentisch "Mach dir keine Sorgen, Mama, ich mache keinen Mist."

Ausreißer wie Christian beschäftigen die Ermittler in den zwei Abteilungen der Vermisstenstelle im Berliner Landeskriminalamt (LKA) täglich. 8154 Vermisstenanzeigen haben die Kripobeamten im vergangenen Jahr bearbeitet, in mehr als der Hälfte der Fälle suchten sie nach Kindern und Jugendlichen, unter ihnen viele, die sich regelmäßig absetzen. "Besonders bei Heranwachsenden haben wir es oft mit mehrfach Vermissten zu tun", sagt Matthias Tkotsch, Erster Kriminalhauptkommissar im LKA 4125: "Den Rekord hält ein Junge, der allein im vergangenen Jahr 60 Mal als vermisst gemeldet wurde."

"Manchmal denkt man: der schon wieder", ergänzt Kollege Helmut Mitze, Kriminalhauptkommissar im benachbarten LKA 4124. Die meisten Dauerausreißer tauchen früher oder später von allein wieder auf. Wie die 13-jährige Sophie Franzky, die am 15. Januar aus einem Heim in Beerfelde verschwand und sich am 14. März auf der Wache des Bundesgrenzschutzes am Ostbahnhof meldete. Und wie Sophie, die bereits zum 20. Mal ausgerissen war, flüchten viele dieser Kinder immer wieder aus zerrütteten familiären Verhältnissen, vor der Sucht, vor häuslicher Gewalt oder sozialer Verwahrlosung.

Routinierte Dauerausreißer wie Sophie wissen sich durchzuschlagen. Sie tauchen bei Gleichgesinnten - wie den Straßenkindern vom Alex oder Bahnhof Zoo - unter, oder sie schließen Bekanntschaften mit Jugendlichen und Erwachsenen, bei denen sie übernachten können. "Die meisten dieser Fälle sind nach ein bis zwei Tagen gelöst", sagt Helmut Mitze, allerdings: "Je öfter sie ausreißen, desto länger werden die Zeiträume des Verschwindens". Kripobeamte der örtlichen Direktionen ermitteln im persönlichen Umfeld der Vermissten, bevor der Fall nach zehn Tagen zur Vermisstenstelle des LKA wandert.

Doch wo ein Mensch verschwindet, müssen die Ermittler auch auf das Schlimmste gefasst sein: Besonders bei Kindern können sie ein Gewaltverbrechen nie ausschließen. "Die erste Frage lautet deshalb immer, ob das vermisste Kind ein Motiv gehabt haben könnte, von zu Hause wegzulaufen. Gab es Stress mit dem Lehrer, den Eltern? Hat das Kind schlechte Zensuren oder Liebeskummer? Wenn es dafür keine Hinweise gibt, dann schrillen die Alarmglocken", erklärt Helmut Mitze. "In manchen Fällen ist schon nach 30 Minuten klar, dass die Situation kritisch ist", sagt der Leiter der Vermisstenstelle beim LKA, Michael Havemann.

Wie beim Verschwinden der 12-jährigen Sandra Wißmann, die am 28. November 2000 die elterliche Wohnung in Kreuzberg verließ, um einkaufen zu gehen. Sandra kehrte bis heute nicht zurück. Besonders eine Tatsache im Leben des Mädchens legt ein Verbrechen als Grund für sein Verschwinden nahe: Sandra hatte keinen Grund davonzulaufen. Die Ermittlungen übernahm deshalb sofort eine Mordkommission.

Die Befürchtung, dass vermisste Kinder Opfer eines Tötungsdelikts wurden, steigt bei den Ermittlern, je länger ein Kind verschwunden bleibt. Doch die Hoffnung stirbt erst mit der letzten Gewissheit, dem Fund einer Leiche. Zu den Aufgaben der Vermisstenstelle gehört daher auch die Identifizierung unbekannter Toter. Über das Schicksal des Schülers Manuel Schadwald, der am 24. Juli 1993 die Wohnung der Eltern in Tempelhof verließ, fehlt bis heute jede Gewissheit. Hunderte Spuren haben die Ermittler verfolgt. Hinweise auf eine mögliche Entführung des Jungen haben sich ebenso wenig bestätigt wie Aussagen, nach denen Manuel Schadwald in der Prostitutionsszene untergetaucht ist. Ganz ausschließen will Kriminalhauptkommissar Matthias Tkotsch diese Möglichkeit aber nicht: "Bei Kindern und Jugendlichen, die aus freien Stücken von zu Hause weglaufen, haben wir es immer wieder erlebt, dass sie auf den Strich gehen, um Geld zu verdienen. Ein Großteil von ihnen kommt aus zerrütteten Familien. Plötzlich erfahren sie Zuwendung, können sich teure Handys und Spielekonsolen kaufen. Den Sex nehmen sie mehr oder weniger billigend in Kauf."

Sollte Manuel Schadwald tatsächlich noch leben, könnte ihn die Polizei ohnehin nicht mehr zwingen, nach Hause zurückzukehren. Inzwischen wäre er volljährig und könnte, wie jeder Erwachsene, seinen Aufenthaltsort frei bestimmen. Anders als die Fahndung nach Minderjährigen, die durch die Aufsichtspflicht der Eltern gedeckt ist, setzt die polizeiliche Suche nach vermissten Erwachsenen den begründeten Verdacht voraus, dass die gesuchte Person Opfer einer Straftat geworden ist, als hilflos oder selbstmordgefährdet gilt.

Gesetzliche Grundlage für die Fahndung nach vermissten Erwachsenen ist allein die Gefahrenabwehr. Doch auch Vermisste, die wie vom Erdboden verschluckt scheinen und länger als ein Jahr verschwunden bleiben, tauchen mitunter ebenso plötzlich wie wohlbehalten wieder auf. Christian H., den Jungen aus Lichtenberg, holte nicht die Fahndung der LKA-Vermisstenstelle nach Hause, sondern das Heimweh und die Sehnsucht nach Mutter und Schwester.

Ein halbes Jahr lang hatte er sich bei einer Baufirma in Kreuzberg das Geld für eine Abenteuerreise durch Europa verdient. Christian verliebte sich in Warschau, reiste im Nachtzug nach Paris, pflückte Trauben in Avignon und half bei der Apfelsinenernte in Valencia.

"Ich hatte die Schnauze voll, ich wollte die Welt sehen", erklärte er nach seiner Rückkehr. 14 Monate nach seinem Verschwinden stand er am 30. März 1994 plötzlich wieder zu Hause vor der Tür, mit Blumen in der Hand. Den Geburtstag seiner Mutter hatte er nicht vergessen.

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