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Der Göttinger Angstforscher Borwin Bandelow.

© Frank Pusch/ dpa

Angstforscher nach Attacke im U-Bahnhof: „Viele fürchten sich, alleine rauszugehen“

Viele Menschen in Berlin haben Angst vor Angriffen. Borwin Bandelow spricht im Interview über Statistiken und die Wahrscheinlichkeit, Opfer einer Gewalttat zu werden.

Herr Bandelow, ein Mann tritt eine Frau von hinten die Treppe hinunter. Nun geht die Angst in der Stadt um. Verständlich?

Ja, wenn eine Gefahr als neu und unbeherrschbar wahrgenommen wird, überschätzen wir die Wahrscheinlichkeit, dass sie erneut eintritt. Das ist bei einer Gewalttat von unbekannter Rohheit der Fall, aber ebenso bei einem neuen Virus, bei Gewalttaten, die von Flüchtlingen begangen werden oder bei Sexualmorden durch Fremde.

Wir versetzen uns ins Schicksal der Betroffenen, statt uns an Fakten zu halten?

Ja, in Deutschland gibt es 20 Sexualmorde pro Jahr, aber außerdem 300 Frauen, die von ihren eigenen Ehemännern jährlich ermordet werden. Gott sei Dank ist also die Wahrscheinlichkeit, Opfer einer Straftat durch einen Fremden zu werden, eher gering, und es ist sogar noch unwahrscheinlicher, dass ein Flüchtling der Täter ist. Trotzdem fürchten viele Frauen nach einer solchen Tat, alleine rauszugehen und befürchten, das nächste Opfer zu werden.

Leben wir also in einer hysterischen Gesellschaft?

Das würde ich nicht sagen, damit würde man die Fälle bagatellisieren. Es gibt eine Überreaktion, gegen die keine Statistik hilft. Wir verdrängen die Wahrscheinlichkeit und steuern zugleich durch falsche Ernährung und zu wenig Bewegung blindlings auf unsere größte Gefährdung zu, nämlich an einer Herz- und Kreislauf-Krankheit zu sterben wie fast jeder zweite Deutsche. Und wir fühlen uns zu Hause sicher, obwohl jährlich 9.000 Menschen bei Haushaltsunfällen sterben – das sind übrigens dreimal so viele Tote wie bei Autounfällen.

Hat sich die Wahrnehmung von Gefahr und die Vorbeugung gewandelt?

Das glaube ich nicht. Früher stand an jeder Ecke ein Streifenpolizist. In Rom gibt es vor vielen herrschaftlichen Häusern einen kleinen Posten, wo sich früher ein Wachmann die Beine in den Bauch stand. Allerdings gab es damals nur Berichte von Straftaten. Kameras verhindern oft auch Straftaten. Durch Bilder werden sie aber auch plastischer. Da kocht dann der Volkszorn, und diesen Menschen erscheint es so, als ob solche Fälle vermeidbar seien.

Borwin Bandelow ist Professor für Psychiatrie und Psychotherapie an der Universität Göttingen und ein Experte für Angsterkrankungen.

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