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Berlin: Vier Minuten bis zum Tod

BERLIN .Die Kriminalpolizei ermittelt gegen einen Zugabfertiger der S-Bahn wegen fahrlässiger Tötung durch Unterlassen.

BERLIN .Die Kriminalpolizei ermittelt gegen einen Zugabfertiger der S-Bahn wegen fahrlässiger Tötung durch Unterlassen.Sieben Minuten lag ein 23jähriger Mann am späten Sonntag abend auf den Gleisen des S-Bahnhofs Bellevue.Eine Zeugin sah aus ihrem gerade vom gegenüberliegenden Bahnsteig abfahrenden Zug heraus den Mann um 22.29 Uhr auf die Gleise fallen.An der nächsten Station, dem Lehrter Stadtbahnhof, stieg sie sofort aus und alarmierte den Zugabfertiger.Der bedankt sich für, erklärt, das Personal der Nachbarstation sei zuständig - und fertigte den nächsten Zug ab.Dieser überrollte drei Minuten später, um 22.36 Uhr, im Bahnhof Bellevue den auf den Gleisen liegenden Mann.Die Notbremsung des Fahrers kam zu spät.

Die Zeugin Dorte S.ist entsetzt über das Verhalten des Zugabfertigers, und die Kripo ist es auch."Die Geschichte stinkt uns", heißt es in der ermittelnden Direktion."Wieso hat der den Zug losfahren lassen?", rätselt die Zeugin."Wieso haben die dann nicht wenigstens noch den Notschalter ausgelöst?", fragt ein Polizeibeamter.

Zeit zum Überlegen war genug.Dorte S.saß im zweiten Wagen des Zuges der Linie S 75, der den Bahnhof Bellevue um 22.29 Uhr verließ.Mit Dorte S.sahen wohl einige andere Fahrgäste, wie Robert K.torkelte, über den Bahnsteig wankte und dann etwa einen Meter tief auf das benachbarte Gleis fällt."Er wirkte betrunken, andere Menschen waren nicht auf diesem Ende des Bahnsteiges." In diesem Moment rollt ihr Zug schon, ängstlich beobachtet sie, ob auf dem Gegengleis ein Zug kommt.Bis zum Lehrter Stadtbahnhof sind es 1700 Meter.Nach drei Minuten fährt der Zug von Dorte S.in die Station ein, auf dem Gleis Richtung Zoo ist noch kein Zug, Sonntag abend ist der Takt auf der Stadtbahn nicht mehr so dicht.Die Zeugin läuft so schnell es geht zum Zugabfertiger und schildert ihm, was sie vor wenigen Minuten sah.

"Der S-Bahner bedankte sich und sagte, daß auf dem Bahnhof Bellevue ja auch Personal sei und die das sicher gesehen hätten", erzählt die Zeugin.Währenddessen rollt ein Zug Richtung Bellevue ein - und wird vom S-Bahner ohne Zögern abgefertigt.Der Triebfahrzeugführer wird nicht gewarnt.Gut drei Minuten später ist Robert K.tot.

Der Fahrer des Zuges nach Spandau sieht an der Einfahrt in den Bahnhof Bellevue zwar noch einen Menschen auf den Schienen, aber seine Notbremsung kommt zu spät.Sofort wird der Zugverkehr unterbrochen, die Kriminalpolizei kommt, der Gerichtsmediziner stellt den Tod fest, die Leiche wird abtransportiert.Gegen 24 Uhr rollen hier wieder Züge.

Der S-Bahner hätte vier Minuten Zeit gehabt den Lauf des Unglücks zu stoppen.Am Lehrter Stadtbahnhof werden die Züge über Funk abgefertigt, die Bahnsteig-Aufsicht hätte die Möglichkeit gehabt, den Triebwagenführer zu warnen.Außerdem stehen alle Bahnhöfe über ein bahninternes Telefonnetz untereinander in Verbindung (das sogenannte Basa-Netz).Ebenfalls über "Basa" können die Abfertiger den Fahrdienstleiter anrufen und von diesem einen Streckenabschnitt sperren lassen.Eine Art "Nothalt-Knopf", mit dem die 750 Volt Spannung in der Stromschiene ausgeschaltet werden kann, gibt es nicht auf den Bahnsteigen.Nur die Triebfahrzeugführer können über einen künstlichen Kurzschluß die Spannung auf seinem Gleis unterbrechen.

Die Zeugin sagt, daß erst nachdem der Zug im Lehrter Stadtbahnhof abgefertigt worden sei, die Aufsicht in seinem Häuschen telefoniert habe.Mit wem, weiß sie nicht.Die Kripo hat die beteiligten S-Bahner noch nicht vernommen.Ob die Warnung von Lehrter Stadtbahnhof nach Bellevue gelangte, blieb gestern unklar.Das Aufsichtsgebäude des Bahnhofs Bellevue ist einige Dutzend Meter von der Stelle entfernt, wo Robert K.fiel.

Nach Einschätzung der Zeugin war der 23jährige Berliner betrunken.Das Ergebnis des Blutalkohltests lag der Polizei gestern noch nicht vor.Klar sei nur, daß kein Fremdverschulden vorliege; andere Menschen seien nicht in der Nähe gewesen sein, als Robert K.fiel.

Nach ihrem Gesräch mit dem Abfertiger wartet Dorte S.am Lehrter Stadtbahnhof auf ihren Zug.In der Gegenrichtung steht ein Zug am Bahnsteig und wird nicht abgefertigt.Dorte S.fragt, wieso."Es gab einen Toten", sagt die Aufsicht.

Die Pflicht, ein Leben zu retten

"Wer durch Fahrlässigkeit den Tod eines Menschen verursacht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft", sagt Paragraph 222 des Strafgesetzbuches.Er beschreibt ein Massendelikt, denn er betrifft vor allem die blutigen Folgen des Verkehrs.Fahrlässigkeit am Steuer, aber auch Fahrlässigkeit von Ärzten, macht den größten Teil der juristischen Kommentare zu diesem Thema aus.

Gemeint ist immer ein Verstoß gegen Sorgfaltspflichten.Auch der schläfrige Schrankenwärter könnte ein Modellfall sein, ein schlampiger Kranfahrer ebenso.Wer sich übermüdet oder betrunken ans Steuer setzt und einen Menschen überfährt, handelt "sorgfaltswidrig".Er hat fahrlässig getötet.

Es gibt aber auch das "fahrlässige Unterlassungsdelikt", und das könnte dem Angestellten der S-Bahn auf dem Lehrter Bahnhof Vorwurf gemacht werden.Hat er es versäumt, das Nötige und Richtige zu tun?

Fahrlässige Unterlassung ist es, wenn man von einem Menschen erwarten kann, daß er "zur Abwendung einer bestehenden oder drohenden Gefahr" eingreift, wie es in einem Standardkommentar heißt.Die Anforderungen sind streng, und sie werden noch strenger, wenn ein Mensch womöglich beruflich versagt hat.Ohne Rücksicht auf die persönlichen Fähigkeiten, sagt ein Kommentar, ist ein Verhalten dann schon rechtswidrig, wenn der Betreffende "die für seinen Verkehrskreis maßgebliche Sorgfalt außer acht läßt".Erkennt einer zwar die Gefahr für einen anderen Menschen, macht sich aber leichtfertig nicht klar, wie er ihm helfen könnte - dann kann er schnell zum Angeklagten werden.Das dürfte ihm aber auch schon dann passieren, wenn er zu gleichgültig ("pflichtwidrig") ist, eine gefährliche Situation überhaupt zur Kenntnis zu nehmen.Das Gesetz fordert von jedem, in einer solchen Situation das zu tun, was er konkret tun kann - nach Kräften und Möglichkeiten einzugreifen. pen

Die Chronologie des tödlichen Unglücks

Das Unglück läßt sich mit Hilfe des Fahrplans der S-Bahn wie folgt rekonstruieren.

22.29 Uhr: Durchs Zugfenster sieht Dorte S., wie Robert K.am östlichen Ende der Station Bellevue über den Bahnsteig torkelt und dann rücklings auf die Gleise Richtung Zoologischer Garten fällt.In diesem Moment fährt ihr Zug in Bellevue los in Richtung Lehrter Bahnhof.

22.32 Uhr: Nach 1700 Metern erreicht der Zug der Linie S 75 Spandau - Wartenberg mit Dorte S.die Station Lehrter Stadtbahnhof.Bis zu dieser Minute hat die Zeugin keinen Zug in die Gegenrichtung fahren gesehen.Der Zug nach Wartenberg hält am Bahnsteig.Dorte S.steigt aus und rennt zum Aufsichtsbeamten der Station Lehrter Stadtbahnhof und warnt ihn, daß am Bahnhof Bellevue ein Mensch auf die Gleise gefallen ist.

22.33 Uhr: Der Zug nach Spandau fährt auf dem zweiten Gleis ein.Über Funk fertigt die Aufsicht trotz der Warnung den Zug ab.

22.34 Uhr: Mit Tempo 60 fährt dieser Zug über die neuen Gleise des Stadtbahnviaduktes Richtung Bellevue.

22.36 Uhr: Der Fahrzeugführer sieht wenige Meter hinter dem Anfang des Bahnsteigs einen Körper auf den Gleisen.Er leitet eine Gefahrenbremsung ein, trotzdem überrollen die ersten Achsen des Zuges Robert K.

22.37 Uhr: Der Zugverkehr wird unterbrochen.

24 Uhr: Die Züge fahren wieder.

JÖRN HASSELMANN

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