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Berlin: Von Knästen und Ganoven

Keinen Menschen sehen und sprechen: Mit totaler Isolationshaft wollte man im Zellengefängnis Moabit einst Verbrecher läutern. Die preußische Anstalt wurde 1958 abgerissen – die Liste ihrer Insassen liest sich wie das Who’s who der Berliner Kriminalgeschichte

„Mütze auf und an die Wand". Sekunden nach dem Ruf des Wächters wurde der Riegel der Zellentür zurückgestoßen. Als die Tür sich öffnete stand der Gefangene an der gegenüberliegenden Mauer. Eine Mütze mit heruntergeklapptem ungewöhnlich großem Schirm verdeckte das Gesichtsfeld des Trägers, er konnte weder nach vorn noch zur Seite schauen. Der Blick war nur zum Boden frei – damit der Mann nicht stolperte.

Sein erster morgendlicher Weg führte durch lange Gänge zur Andacht in der Anstaltskirche – ein halbrunder Raum mit merkwürdigen Kabinenstühlen: Wie aufrecht stehende Särge sahen sie aus, nur nach vorne offen, die größten standen ganz hinten, die für kleinere Insassen vorne. Hatte der Gefangene darin Platz genommen, durfte er die Mütze vom Kopf nehmen und hatte nun freie Sicht auf den Pfarrer. Das war im preußischen Zellengefängnis Moabit zur Läuterung der Häftlinge erwünscht, aber der Blickkontakt und überhaupt jedes Gespräch und jede Annäherung zu anderen Gefangenen wurden konsequent unterbunden.

Noch heute stehen die gewaltigen Außenmauern des einstigen Zellengefängnisses an der Lehrter Straße, das am Weg unseres Stadtspazierganges liegt. Wie eine Festung sah es aus – ein Bilderbuch-Knast. Und es wurde mehr als hundert Jahre lang als Haftanstalt genutzt, von 1849 bis 1958. Alles begann mit dem Wunsch König Friedrich Wilhelm IV, vor den Stadttoren Berlins ein preußisches Mustergefängnis einzurichten. Darin wollte er Kriminelle auf Dauer von ihrer schädlichen Veranlagung „heilen".

Man baute einen Zentralbau, den eine große Kuppel überwölbte. Von diesem Zentrum zweigten sternförmig Zellentrakte mit 520 Einzelzellen ab. Der Vorteil: Von den Fenstern der Kuppel aus konnte ein einziger Beamter alle Außenmauern beobachten, um Fluchtversuche zu vereiteln. Dieses Prinzip, nach dem später 1881 auch die heutige Untersuchungshaftanstalt Moabit erbaut wurde, funktionierte gleichfalls im Inneren, da vom Zentralbau aus der Blick in alle Korridore ging.

Die theoretischen Grundlagen für die damalige rigide Isolationshaft lieferte der „Vater der europäischen Gefängniskunde“, der Hamburger Armenarzt Dr. Nikolaus Heinrich Julius. Sein „Reform-Modell“ sollte die Gefangenen zur Selbsterkenntnis führen und schädliche Einflüsse fern halten. Damit auch beim Freigang in den dreieckigen Höfen Gesprächs- und Blickkontakte unterblieben, trugen die Gefangenen ihre Schirmmützen und wurden mit drei Meter langen Ketten an den Fußgelenken aneinander gekettet. Um jede Annäherung zu verhindern, musste die Kette straff gehalten werden, sie durfte den Boden nicht berühren. Aus dieser Zeit hat sich der Begriff „im Dreieck springen“ erhalten.

Auch Wilhelm Voigt, der spätere Hauptmann von Köpenick hat diesen preußischen Strafvollzug noch erlebt. Er wurde als Siebzehnjähriger wegen Fälschung von Postanweisungen verurteilt und saß Mitte des 19. Jahrhunderts im Zellengefängnis. Dessen Insassenlisten lasen sich ohnehin wie das Who’s who der Berliner Kriminalgeschichte.

Viele Namen führen mitten hinein in die düstere Kulisse der Stadt – beispielsweise in die einstige Gegend der Diebe, Prostituierten und Gangstervereine rund um den „Schlesischen Bahnhof“ (heute Ostbahnhof). Dieser im Weltkrieg komplett zerstörte Kiez galt in den 20er Jahren als Kriminalitätshochburg. Unterweltssyndikate trafen sich hier in Kellerlokalen, getarnt als Ring- oder Sportvereine, planten ihre nächsten Coups und gerieten bei Massenschlägereien aneinander. Und auch die „Bestie vom Schlesischen Bahnhof“, der Serienmörder Karl Großmann, zerstückelte dort seit 1918 in seiner Wohnung mehr als zwanzig junge Frauen.

Berlin – Hauptstadt des Verbrechens? Darüber wird seit 150 Jahren trefflich gestritten. Auch in Hamburg oder Frankfurt a. M. gab und gibt es pro 100 000 Einwohner ähnlich viele Straftaten, wobei man jede Kriminalstatistik ohnehin vorsichtig interpretieren muss. Denn allein der verstärkte Einsatz von Kripo-Ermittlern bei bestimmten Delikten kann die Zahl der erfassten Fälle erhöhen,obwohl diese tatsächlich nicht angestiegen sind.

Berlin hat allerdings eine typische Großstadtkriminalität – und dazu gehören auffällig viele spektakuläre Fälle. Zum Beispiel die Meisterstücke der Gebrüder Sass in den 20er Jahren. Sie arbeiteten sich durch selbst gegrabene Tunnel zu Tresorräumen vor, die als uneinnehmbar galten. Und schweißten Geldschränke höchst geschickt auf, was selbst Verfolgern Respekt abnötigte.

Mehr als acht Jahre lang narrten sie die Polizei, bis man sie 1934 festnahm und zu langjähriger Haft verurteilte. Die sollten sie im Zellengefängnis Moabit absitzen, doch die Nazis ließen sie im KZ Sachsenhausen ermorden.

Im Zellengefängnis Moabit war die Isolationshaft in den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts langsam abgeschafft worden. Es gab zu viele Fälle von Selbstmord und Wahnsinn, vor allem, nachdem Johann Heinrich Wichern 1856 die Direktion übernahm und die Häftlinge noch konsequenter abschirmte. Zuvor hatte Wichern das Hamburger Rauhe Haus geleitet.

Der Preußische Landtag machte Schluss mit der Abschottung, weil sich „keine Besserung der kriminellen Neigungen einstellte.“ Zugleich arbeitete im Gefängnis ab 1866 der Henker: Es war seit dieser Zeit auch Richtstätte. Hier wurde Schreiner Max Hödel geköpft, nachdem der politische Wirrkopf 1878 versucht hatte, Kaiser Wilhelm I. zu erschießen.

Nach 1941 diente ein Gebäudeteil als Gestapo-Kerker. Dorthin brachte man den Dichter Albrecht Haushofer, der Berater des Hitler-Stellvertreters Rudolf Heß war, bis er wegen seiner Kritik an der Kriegspolitik in Ungnade fiel. Auch der Sänger Ernst Busch saß vier Jahre im Zellengefängnis, weil seine Texte in den Augen der Nazis „Vorbereitung zum Hochverrat“ waren. Und der Schauspieler und Regisseur Wolfgang Borchert kam gleichfalls 1944/45 nach Moabit – wegen einer Parodie auf Joseph Goebbels.

1958 wurde das einst modernste Gefängnis Preußens abgerissen – es stand einer geplanten Schnellstraße im Wege. Nur die Außenwand und drei angrenzende Wohnhäuser für die Aufseher blieben stehen. Die Straße wurde dann doch nicht gebaut, stattdessen entstanden auf dem Boden der einstigen Zellentrakte Mietshäuser. Die Mauern sollen hingegen als kriminalgeschichtliches Denkmal erhalten bleiben. An die düstere Vergangenheit werden hin und wieder auch die nahen Kleingärtner erinnert, denn auf ihren Parzellen befand sich der Friedhof für in Haft verstorbene Gefangene. In den 50er Jahren ließ man ihn planieren.

Kein guter Gedanke für die Laubenpieper, denen erst später klar wurde, dass so mancher Knochen, den der Hund im Garten ausgegraben hatte und der so gar nicht nach einem Kotelettknochen aussah - auch keiner war.

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