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Von Tag zu Tag: Herzensschlot

Gunda Bartels staunt über zärtliche Gefühle für ein garstiges Kraftwerk

Okay, wer Strom aus der Steckdose haben will, muss mit Kraftwerken leben. Auch wenn sie laut brummen, Sonne rauben, optisch vielfach keine Bereicherung sind und die weichen Hirne überreizter Großstädter mit schwer nachzuweisendem, aber sicher trotzdem ungehemmt emittiertem Elektrosmog gar kochen. Und, na klar, hat Industriearchitektur ihren abstrakten, grafischen Reiz, außerdem ist Berlin keine Blumenwiese. Aber dass ein hässliches, braunes Monster wie das Heizkraftwerk Lichterfelde allein durch seine schiere jahrzehntelange Anwesenheit in der Lage ist, zärtliche Heimatgefühle und nostalgische Umbauwehmut in der Nachbarschaft aufkommen zu lassen, das überrascht dann doch. Als Wahrzeichen, Wegweiser, Falkennest und romantischen Mondfang lieben die Leute ihre Kraftwerksschlote. Das zeigt, dass das Herz ein sehr elastischer kleiner Muskel ist und die Macht der Gewohnheit nicht zu unterschätzen. Oder haben die alle den großen Vergänglichkeitspoeten Robert Gernhardt gelesen? „Dich will ich loben: Hässliches,/Du hast so was Verlässliches ... Das Schöne gibt uns Grund zur Trauer/Das Hässliche erfreut durch Dauer.“

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