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Berlin: Wahlkampf mit Tora und Tacheles

Die Jüdische Gemeinde ringt um ihren Zusammenhalt und ihre Identität. In einem Monat wird ein neues Parlament bestimmt

Nina Müller bewirbt sich um den deutschen Pass. Sie versteht Deutsch, aber mit dem Sprechen hat sie Probleme. Deshalb sitzt Nina Müller, Ende 50, Russin, immer mittwochs in einem Hinterhaus in Charlottenburg und formt deutsche Sätze. Wäre die Jüdische Gemeinde mit ihrer „Integrathek“ nicht, müsste sie zur Volkshochschule gehen. Der Weg in die Gemeinde fällt ihr leichter. Denn Eleonora Shakhnikova, die 37-jährige Leiterin des Integrationsbüros, kennt die Probleme der Einwanderer und versucht, ihnen ein bisschen Nestwärme zu geben.

In der „Integrathek“ treffen sich Frauen und Männer nicht nur zum Deutsch-, Hebräisch, Französisch- und Polnischlernen, sondern auch zum Kochen und Nähen, zum Dichten und Theaterspielen, es gibt die Ingenieursgesellschaft, in der schon Patent würdige Erfindungen gemacht wurden und den Handy-Kurs für die Senioren. Die Mehrheit der Juden, die seit 1990 aus der ehemaligen Sowjetunion nach Berlin gekommen sind, sind um die 60, Akademiker und arbeitslos. Während ihre Enkel eifrig an Gymnasien lernen, haben sie oft auch nach Jahren keine Orientierung in Deutschland gefunden, sagt Shakhnikova. Die Streitereien in der Gemeindeführung interessieren hier, im Integrationsbüro, niemanden. Zur Wahl des Gemeindeparlaments am 25. November wird Nina Müller wohl nicht gehen.

Nach außen dominieren aber gerade die Auseinandersetzungen das Bild der Jüdischen Gemeinde – auch wenn sie nur einen kleinen Teil des jüdischen Lebens in Berlin ausmachen. Das liegt zum einen an den Journalisten, für die Streitereien interessanter sind als Alltagsroutine. Das liegt aber auch daran, dass sich in den Kämpfen im Vorstand und im Parlament der mit 12 000 Mitgliedern größten jüdischen Gemeinde Deutschlands die Zerrissenheit der jüdischen Gemeinschaft spiegelt, der der innere Kompass abhanden gekommen ist.

Zu unterschiedlich sind die Biografien derer, die unter dem Dach der „Einheitsgemeinde“ aufeinandertreffen, als dass sich Konflikte vermeiden ließen. Zumal eine Persönlichkeit, die mit Bestimmtheit und Charme die Widersacher zähmen könnte, nicht in Sicht ist.

Bis vor wenigen Jahren stiftete die Erinnerung an die Shoa und das Bewusstsein, im Land der Täter zusammen stehen zu müssen, den Zusammenhalt der jüdischen Gemeinden. Doch das trägt heute nicht mehr. Gideon Joffe, dem 35-jährigen Gemeindevorsitzenden, fällt als erstes die „Solidarität mit Israel“ ein, wenn man ihn nach der Identität der jüdischen Gemeinschaft fragt. „Überall auf der Welt fühlen sich Juden einander nahe, denn man weiß nie, ob der andere oder man selbst irgendwann bedroht wird“, sagt Joffe. Israel sei eine „Art Lebensversicherung“. Joffe tritt mit dem Wahlbündnis „Beit Hillel“ (Haus Hillels) an und möchte der Gemeinde ein „integrativeres, menschenfreundlicheres Gesicht“ geben.

Jude zu sein, ist für Ilja Zofin vor allem eine Lebenseinstellung: Etwas Positives zu finden, auch wenn einem das Wasser zum Hals steht, der Sinn für Humor. Der 53-jährige Zofin kam 1990 aus Russland nach Deutschland. In Moskau leitete er eine Kinemathek, in Berlin hat er sich mit einer Spedition selbstständig gemacht. Er tritt mit der Gruppe „Neue Namen“ bei der Wahl an: Seine Mitstreiter sind wie er in den vergangenen 17 Jahren eingewandert, arbeiten als Ärzte und Anwälte oder haben eigene Unternehmen. Zofin findet, dass die Berliner Gemeinde zu sehr auf Deutschland und Israel fixiert sei. Er wünscht sich eine „europäische Perspektive“ mit Blick nach Osten.

Lala Süsskind, als Kind polnischer Eltern nach dem Krieg in Berlin aufgewachsen ist, möchte wieder mehr „Religiosität“ in die Gemeinde und mehr Juden in die Synagogen bringen. Sie kandidiert für das Wahlbündnis „Atid“, in dem hier Aufgewachsene, Israelis und russischsprachige Juden vertreten sind, aber niemand, der nach 1990 eingewandert ist.

Wie die Lebensläufe, so sind auch die religiösen Bedürfnisse der Berliner Juden sehr unterschiedlich. Die Orthodoxen und Konservativen schauen auf die Liberalen herab. Die würden alles zu lax nehmen. Den Liberalen sind die Konservativen und die Konvertiten suspekt, von denen es auch in der Jüdischen Gemeinde immer mehr gibt. Die würden keinen Spaß verstehen, alles hundertfünfzigprozentig machen wollen.

Der Gemeindevorsitzende Gideon Joffe hat sich aufs Pragmatische konzentriert. Er hat die Gemeindeverwaltung gebündelt und verschlankt. Während seiner Amtsführung wurde der Grundstein für ein Pflegeheim gelegt und eine neue Synagoge eingeweiht. Ein Mitarbeiter aus der Senatsfinanzverwaltung wurde als Geschäftsführer von außen geholt, um die Finanzen zu ordnen.

Nicht nur Joffe, auch die anderen Kandidaten wollen sich aufs Pragmatische konzentrieren, wenn sie gewählt werden: Das jährliche Defizit von zwei Millionen Euro abbauen, den sechs Synagogengemeinden mehr Macht geben. Dazu müsste sich der Gemeindevorstand und das Parlament aber ein Stück weit selbst entmachten. Danach sieht es nicht aus.

Für Arkadi Schneidermann vom Bündnis „Tacheles“ ist der „Faktor Mensch“ das Hauptproblem. Denn die jetzige Gemeindeführung – zu der er selbst gehört – verleumde, lüge und mache Versprechungen, die nicht gehalten würden. Der „Faktor Mensch“ ist auch jetzt am Werk. Während alle nach außen betonen, sie wollten gegen „Spaltungstendenzen“ vorgehen, laufen intern schon wieder die Faxgeräte heiß, werden akribisch zusammengetragene Dossiers verschickt, die ein schlechtes Licht werfen auf diesen und jenen. Am Mittwoch tagt das Gemeindeparlament ein letztes Mal vor der Wahl. Vermutlich wird darüber gestritten, ob Joffe als Gemeindevorsitzender abgewählt werden soll. Claudia Keller

Claudia Keller

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