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Berlin: Weihnachten im Wrangelkiez

Die Armut und Härte im Stall, in dem Jesus zur Welt kam, hier ist sie allenthalben Von Stefan Matthias

Woran merken wir, dass Weihnachten ist? Woran merken wir, dass Gott Mensch wird? Im Kreuzberger Wrangelkiez wird das Fest nicht so idyllisch sein wie in anderen Teilen der Stadt. Hier wird auch manch einer froh sein, wenn es wieder vorbei ist. Was bedeutet Weihnachten also, und wie feiern wir es in einem Stadtteil, in dem manch Deutscher seine Kinder nicht zur Schule schicken möchte?

Da, wo es noch Familien gibt, wird man gemeinsam feiern. Stellt sich weihnachtliche Stimmung ein? Erinnerungen werden vielleicht wach, mit dem Geruch von Weihnachtsgebäck und Tannengrün, im Schein der Kerzen am Weihnachtsbaum. Ist hier der Geburtsort Gottes? Und unsere Sehnsüchte, die wir mit dem Fest verbinden – werden sie in diesem Jahr erfüllt? Unsere Sehnsucht nach Geborgenheit und Angenommensein. Unsere Sehnsucht, verstanden und geliebt zu werden. Die Sehnsucht nach Frieden und Harmonie, nach einem Ende von rücksichtsloser Selbstdurchsetzung, Mobbing und Streit. Und die Sehnsucht nach Gerechtigkeit, danach, dass auch ich eine Chance bekomme, meinen Platz im Leben, in der Gesellschaft zu finden. Bleibt nach den Weihnachtstagen mehr als Zimtduft und Kerzenschein?

Woran merken wir, dass Weihnachten ist? Woran merken wir, dass Gott Mensch wird? Woran hat man es vor 2000 Jahren gemerkt, dass Gott Mensch geworden ist? „Sieh und urteile selbst: Blinde sehen und Lahme gehen, Aussätzige werden rein und Taube hören, Tote stehen auf, und Armen wird gute Nachricht gebracht.“ So antwortete Jesus seinem Freund Johannes dem Täufer auf die Frage, ob er der Sohn Gottes sei (Mat. 11,5).

Weihnachten, die Geburt Gottes als Mensch, ist nicht ein Datum auf dem Kalender. Weihnachten, das geschieht immer, wenn diese ganz realen Wunder der Heilung geschehen. Wenn dort, wo die Wunden offen liegen und nicht heilen wollen, dennoch Heilung geschieht. Die Geburt Christi ist nicht ferne Vergangenheit. Gott wird auch heute Mensch, und dies nicht nur im Christentum. Gott wird Mensch im Juden genauso wie in der Muslima, im Hindu oder einer Buddhistin genauso wie im Atheisten. Dort wird Gott geboren, wo sich etwas von dieser Weihnachtssehnsucht erfüllt. Dort, wo sich Menschen von Herz zu Herz verstehen, wird Gott geboren. Hier geschieht Weihnachten, und das meistens völlig inkognito. Weihnachten, das ist ja nicht eine Idee oder ein Dogma, das wir uns als Mensch ausgedacht haben. Weihnachten, das ist vielmehr die lebendige Wirklichkeit Gottes, die zu jederzeit in die Welt kommt. Bethlehem kann überall auf der Welt sein.

Die Weihnachtstage werden wie jedes Jahr auch hier im Wrangelkiez, wo ich Pfarrer bin, vorübergehen. Man feiert es hier weniger sentimental als anderswo. Das liegt wohl daran, dass die Armut und Härte der Krippe im Stall, in der Gott zur Welt kam, hier allenthalben zu spüren ist. Und wenn Gott ganz inkognito Mensch wird, dann merkt man das hier möglicherweise genauer als anderswo. Jetzt, am Heiligabend, sind meine Gedanken bei all den Menschen, die täglich das ganze Jahr lang daran mittun, dass Gott Mensch wird in unserem Kiez. Ich denke an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Bürgerhilfe und der Obdachlosenarbeit, an die Lehrerinnen und Lehrer in unseren Schulen, an die Erzieherinnen in den Kindergärten und Kinderläden, an alle, die sich hier bei uns im interkulturellen und interreligiösen Dialog engagieren. Ich denke an sie stellvertretend für all die anderen, die oft ganz im Verborgenen mitwirken an der Menschwerdung Gottes.

Ich denke an sie und weiß: Hier bei uns im Wrangelkiez wie überall, wo die Armut und Härte der Krippe im Stall erlitten wird, da kommt Gott zur Welt. Ich wünsche ein gesegnetes Weihnachtsfest 2006.

Stefan Matthias ist seit sieben Jahren Pfarrer der evangelischen Taborgemeinde (Taborstr. 17) im Wrangelkiez. Heute, am Heiligen Abend, gibt es in der Taborkirche um 17 Uhr einen Familiengottesdienst mit Pfarrer Ekkehard Gahlbeck, um 22 Uhr hält Pfarrer Matthias eine Christmette, am 26. Dezember um 10 Uhr leitet er ebenfalls den Gottesdienst.

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