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Berlin: Weltstadt mit Nudeln vom Acker

Angermünde steckt voller Merkwürdigkeiten – einst geschmäht, gilt es heute als Schmuckstück

Wenn Angermünde zu Nudelwochen einlädt, sollten Ortsfremde skeptisch sein. Dann feiern in den meisten Gaststätten nicht etwa die Anhänger der italienischen Küche ein Festival. In der 70 Kilometer nordöstlich Berlins gelegenen Kleinstadt kommen an jenen Tagen vor allem Kartoffeln in allen denkbaren Variationen auf den Tisch. Schließlich heißen die Erdknollen hier und in der näheren Umgebung seit mehr als 200 Jahren Nudeln.

Diese Merkwürdigkeit sagt viel über die wechselvolle Geschichte des Ortes mit seinem bis heute bewahrten Bild einer typischen Ackerbürgerstadt aus. Hugenotten brachten im 17. und 18. Jahrhundert in die dünn besiedelte Gegend nicht nur die Kartoffeln und ihr dafür verwendetes französisches Wort für Knoten „noeud“ mit, das im Volksmund zur Nudel wurde. Sie zogen symbolisch auch einen Schlussstrich unter ein unerfreuliches Kapitel. Als „Ketzer-Angermünde“ stand die Stadt lange in keinem guten Ruf.

Tribunale 1336 und 1458 „überprüften“ brutal die Gottesgläubigkeit. Vor allem die Waldenser, Anhänger einer um 1170 in Südfrankreich und Norditalien ins Leben gerufenen Bewegung, gerieten als Andersdenkende ins Visier der Inquisitionsprozesse. Bei der größten öffentlichen Anklage 1336 wurde jeder dritte Einwohner der Stadt zur Kontrolle seiner Ansichten vorgeladen. Für 14 von ihnen kannte das Gericht keine Gnade. Sie endeten auf dem Scheiterhaufen.

Jahrhundertelang litt Angermünde unter diesem unrühmlichen Kapitel. Allerdings zogen findige Geschäftsleute auch ihren Nutzen daraus. Die Brauer verkauften „Ketzer-Bier“, alle Sinne würden davon betäubt, warben sie um Käufer. Die historische Rezeptur wird bis heute angeboten. Mehr Anklang findet aber der „Nudl-Trunk“ – ein Kartoffelschnaps.

Der kommt nicht nur in der Erntezeit im Herbst auf den Tisch der Uckermärker. Fast genauso viele Liebhaber hat er am zweiten Adventswochenende auf dem festlichen „Gänsemarkt“ vor dem Rathaus. Dieser Markt erinnert an ein weiteres, recht ungewöhnliches Angermünder Kapitel. Bei den Stichworten „Gänse“ und „Angermünde“ könnten Roman- und Filmkenner schon aufmerken. Ehm Welk, der im eingemeindeten Dorf Biesenbrow 1884 zur Welt kam, hat die Gänse und Angermünde in der Literatur verewigt.

In seinem Werk „Die Heiden von Kummerow“ von 1937 stellt er den Bauernburschen Martin Grambauer als besonders pfiffig dar. Dieser jubelt dem strengen Pfarrer Breithaupt eine recht verkrüppelte und magere Gans unter, um den Familien- und Religionsfrieden im Dorf zu retten. Das Buch wurde verfilmt, ab und zu läuft der Streifen mit Theo Lingen in der Hauptrolle im Fernsehen. Und nach jeder Filmwiederholung häufen sich im Angermünder Museum die Anfragen nach Welk, nach den Originalschauplätzen und dem Wahrheitsgehalt mancher Episoden. Einige Anrufer erkundigen sich dann im Scherz, wie es denn der „gewaltigen Weltstadt Randemünde“ gehe. Zu dieser gewagten Umschreibung ließ sich Welk in seinem Buch hinreißen und lieferte gleich die Beweise: „die mächtige Marienkirche, das Kloster, der Pulverturm“. Dann aber geriet er vollends ins Übertreiben: „Und überhaupt, so müssen die Goten vor Rom gestanden haben.“

Sehr viele Dinge in der Erzählung sind geblieben. Nur ein Detail stimmt heute nicht mehr. Bei Ehm Welk sagten sich auf dem Marktplatz „Kaiser Wilhelm und Kaiser Friedrich guten Tag“. Heute steht an der Stelle des Kaiserdenkmals seit 1997 eine Brunnenanlage mit amüsanten Motiven aus dem Angermünder Alltag. Zu ihr spazieren die Einwohner zuallererst, wenn sie auswärtigen Freunden ihre Stadt zeigen wollen. Ein gewisser Stolz auf Angermünde erfüllt sie dabei. Das war in den vergangenen Jahren durchaus nicht selbstverständlich.

Wie ein böser Fluch lag lange Zeit die Platzierung im Atlas der Lebensqualität in Deutschland über dem Ort. In dieser 1995 veröffentlichten Liste mit 200 untersuchten Städten musste es einen Namen auf dem letzten Platz geben – und der hieß Angermünde. Arbeits- und Perspektivlosigkeit, zu wenig Kultur- und Freizeitangebote wurden als Negativkriterien genannt. Kaum war die Wahl getroffen, stürmten die Medien den vermeintlich unbewohnbaren Flecken. Die Stadt aber besann sich auf ihre Stärken, weshalb viele Angermünder heute sagen: Dieser Schock war das beste, was passieren konnte.

Angestachelt von den Nachfragen begann mit Landeshilfe ein Sanierungsprogramm für die Altstadt. Man organisierte Künstlersymposien, bei denen Findlingssteine bearbeitet wurden. Die riesigen Kunstwerke sind am Mündesee-Ufer ausgestellt. Weitere Aktionen folgten, wie die längste Kaffeetafel durchs Zentrum oder ein Treffen aller Städte mit der Silbe „Münde“ – und schließlich brachte man sich als Ausflugsziel ins Gespräch. An der früheren Blumberger Mühle entstand ein Info-Zentrum für das Biosphärenreservat Schorfheide-Chorin, das Strandbad Wolletzsee punktet mit fast glasklarem Wasser und zum Nationalpark Unteres Odertal führt ein reizvoller Radweg.

Noch längst sind nicht alle Probleme gelöst, wie die Montagsdemos gegen Hartz IV zeigen. Aber die Leistungen sind allseits anerkannt: „Ketzer-Angermünde“ oder der letzte Platz im Atlas der Lebensqualität sind schon fast vergessen.

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