zum Hauptinhalt
Verheerende Nacht. Am 15. März 1945 warfen amerikanische Flieger 5690 Bomben über Oranienburg ab.

© picture alliance / dpa

15. März 1945: Bombenabwurf über Oranienburg: Wenn die Sirenen heulen

In kaum einer anderen Stadt ist der Zweite Weltkrieg weiterhin so präsent:  Noch 300 Blindgänger vermuten Experten im Boden von Oranienburg. Sie werden mit den Jahren immer gefährlicher.

An diesem Sonntag um 14.45 Uhr werden in Oranienburg die Sirenen heulen. Zum 70. Jahrestag werden sie an die Opfer des verheerenden Bombenangriffs der Alliierten am 15. März 1945, kurz vor Ende des Zweiten Weltkrieges, erinnern. Viele Kommunen haben das Alarmsystem nach dem Kalten Krieg abgeschafft. In der rund 35 Kilometer von Berlin entfernten Stadt blieb es treuer Begleiter: Jeden Sonnabend ist die Sirene zu Testzwecken zu hören – und immer dann, wenn ein Blindgänger entschärft wurde. „Die Menschen atmen dann auf: Es ist das Zeichen, dass es mal wieder geschafft ist“, sagt Bürgermeister Hans-Joachim Laesicke (SPD).

Mehr als 180 Mal war dies bislang der Fall. So viele Blindgänger wurden nach Angaben des brandenburgischen Innenministeriums seit 1991 geborgen. Mehr als 100 davon waren mindestens 250 Kilogramm schwer. Was die Situation wirklich gefährlich macht: Fast alle hatten einen chemischen Langzeitzünder. „Die können ohne ersichtlichen Grund jederzeit hochgehen“, sagt Peter Ewler, Teilbereichsleiter Technik beim Kampfmittelbeseitigungsdienst (KMBD).

Rund 20.000 Bomben fielen im Zweiten Weltkrieg auf die Stadt, in der heute rund 44.000 Menschen leben. 2000 Menschen starben, etwa die Hälfte von ihnen waren Häftlinge des nahen Konzentrationslagers Sachsenhausen sowie Zwangsarbeiter. Der schwerste Angriff am 15. März 1945 legte die Stadt in Schutt und Asche:  5690 Bomben warfen Maschinen der US Army Air Forces über Oranienburg und Umgebung ab, sagt Manuela Vehma, Leiterin des Kreismuseums Oberhavel. Mit seiner chemischen Industrie, den Heinkel-Flugzeugwerken und vielen weiteren Rüstungsbetrieben vor den Toren der Reichshauptstadt Berlin war die Kleinstadt wichtiges Ziel für die Bombergeschwader.

Industriestandpunkt sollte zerstört werden

Vor allem galt der Angriff aber den Auerwerken, wo Uran verarbeitet wurde. Im Rüstungswettlauf um die Entwicklung der Atombombe wollten die USA diesen Industrie- und Forschungsstandort nicht in russische Hände fallen lassen. Da jedoch 1945 keine Chance bestand, die Werke zu bekommen, entschieden sich die Amerikaner für den Großangriff.

„Diese Konzentration von Langzeitzündern ist einmalig in Deutschland“, sagt André Müller, technischer Einsatzleiter beim KMBD für den Norden Brandenburgs. Die Langzeitzünder gehen erst nach einer bis 144 Stunden hoch, so der Sprengmeister.

Noch heute gibt es Sperrungen.

© dpa

Etwa 300 dieser Bomben vermutet Kampfmittelexperte Wolfgang Spyra von der TU Cottbus in einem Gutachten von 2008 noch im Boden. Wie gefährlich die chemisch-mechanischen Zünder sind, hat sich spätestens im Juni 2010 im niedersächsischen Göttingen gezeigt, als ein baugleicher Blindgänger explodierte und drei Sprengmeister ums Leben kamen. „Es ist keine Frage, ob sie kommen – sondern wann“, heißt es unter Experten.

Belastung ist nicht jeden bewusst

Stadt und Land wollen schneller sein: Nach der Tragödie in Göttingen legte der Kreistag Oberhavel auf Grundlage des Spyra-Gutachtens eine systematische Suche fest. Seitdem wurden in Oranienburg und Umgebung viele Löcher gebohrt – auch in bestehenden Häusern durch den Kellerboden ins Erdreich. Jeweils im Abstand von eineinhalb Metern reichen sie fünf, bisweilen auch neun Meter in die Tiefe. Ob privater Hausbauer, Investor oder kommunaler Träger – kein Bau beginnt ohne die Bescheinigung der „Kampfmittelfreiheit“. Um die Schäden möglichst gering zu halten, prüft der Kampfmittelbeseitigungsdienst ständig neue Verfahren. „Ziel ist es, ein Gerät zu finden, das bei der Suche genau anzeigen kann: Das ist eine Bombe“, erklärt dessen technischer Leiter Peter Ewler. „Bislang ist nicht festzustellen, ob im Boden eine Gasflasche oder eine Bombe liegt. Darum lässt sich das Bohren nicht verhindern“.

„Wir haben das vor 15 Jahren hinter uns gebracht“, erzählt Bernd Vogt. Seine Frau und er wohnen hinter dem Schlossgarten der früheren Kurfürstenresidenz. Etwa zwei Stunden lang hätten Experten ihr etwa 500 Quadratmeter großes Grundstück abgesucht. „Sie sind auch tatsächlich auf Metall gestoßen – auf einen alten Eimer“, sagt er lachend.

„Junge Familien, die sich hier niederlassen und bauen wollen, sind oft ganz erschrocken“, sagt Bürgermeister Laesicke. Aus der Ferne sei ihnen die konkrete Belastung nicht bewusst gewesen. „Die Neueinwohner haben dann auch oft ein ganz anderes Bedrohungsgefühl als die Alteingesessenen.“ Auch sind die Untersuchungen teuer und zeitaufwendig. Für Privatleute ebenso wie für Unternehmen und die Kommune. Allein etwa 165.000 Quadratmeter Straßenland wurden laut Bürgermeister Laesicke in den vergangenen drei Jahren abgesucht. Rund 1,6 Millionen Euro habe dies die Stadt gekostet.

Die Oranienburger haben aber auch Routine

Auf dem Gelände der Deutschen Bahn gab es in den vergangen drei Jahren mehr als 32.000 Bohrungen, sagt ein Konzernsprecher. Das Unternehmen hat sich vertraglich verpflichtet, sein Gelände zu untersuchen, bevor weitere Bauarbeiten starten. Gerechnet wird mit etwa 20 Millionen Euro Kosten. In diesem Jahr soll das insgesamt knapp 25 Hektar große Areal abgesucht sein. „Bislang wurden sieben Blindgänger geborgen, von denen einer vor Ort gesprengt werden musste“, sagte der Sprecher.

Sperrkreis, Evakuierung, Zittern um Hab und Gut – die Oranienburger haben Routine darin. In kaum einer anderen Stadt Deutschlands sind die Folgen des Zweiten Weltkrieges noch so präsent wie hier. „Manchmal wundert man sich über die Gelassenheit der Bevölkerung“, meint der Bürgermeister.

Etwas mulmig ist den Menschen aber schon. Deutlich zu spüren war die Nervosität in der Stadt im Dezember 2013: Ein Blindgänger zwischen zwei Wohnblöcken musste in 4,50 Metern Tiefe gesprengt werden, weil eine Entschärfung nicht möglich war. Selbst der damalige Sprengmeister Reinhardt war trotz seiner 41 Dienstjahre angespannt. „Wir haben kaum Platz für Schutzmaßnahmen“, sschilderte es der 62-Jährige damals. Erst zwei Wochen zuvor waren ein Häuschen bei einer Sprengung zerstört und weitere Gebäude beschädigt worden

Die Sprengmeister kennen ihre Verantwortung. „Wenn wir vor Ort sprengen müssen, dann ist das ein gewaltiger psychischer Druck“, sagt Ewler. „Ziel ist immer: die Zerstörung auf ein Minimum begrenzen.“ 25 Sprengmeister gibt es im Land, zudem 40 technische Mitarbeiter. Wichtig für den Job sind neben Fachkenntnissen vor allem menschliche Werte. „Rambos können wir nicht gebrauchen“, betont der 53-jährige Müller. „Auch wenn wir nach außen die coolen Hunde sind“, ergänzt Ewler. Der Anruf bei der Familie nach einem Einsatz sei Pflicht. Je näher sie an die Munition müssen, desto größer ist die Gefahr.

Seit Wiedervereinigung zwei Tote

Angesichts des Alters der Blindgänger werde die Situation immer brenzliger, wissen die Sprengmeister. In mehr als 40 Prozent der Fälle seien die chemischen Langzeitzünder inzwischen in einem Zustand, dass man mit ihrer sofortigen Explosion rechnen müsse.

Seit dem tödlichen Unglück ihrer Kollegen in Göttingen fassen die Brandenburger einen Sprengkörper nicht mehr mit der Hand an. Möglich macht das eine Wasserschneidetechnik einer Lübecker Firma, die gemeinsam von Experten in Niedersachsen und der Mark weiterentwickelt wurde.

In Brandenburg hat es seit der Wiedervereinigung zwei Tote gegeben. Sie starben 1993 und 2004 im Munitionszerlegebetrieb Kummersdorf Gut, sagt Wolfgang Brandt vom Innenministerium. Zudem seien mehrere Mitarbeiter teils schwer verletzt worden.

Zwei Millionen Euro für Blindgänger

Es werden noch viele Einsätze folgen. Brandenburg hat bundesweit den höchsten Anteil an Gebieten mit Kampfmitteln. Etwa 350.000 Hektar gelten noch als belastet, heißt es im Ministerium. Rund 347 Millionen Euro hat die Beseitigung von Munition das Land Brandenburg seit 1991 gekostet. In dem vom Kabinett verabschiedeten Doppelhaushalt 2015/16 sind jeweils 6,57 Millionen Euro dafür eingeplant – etwas mehr als 2014. „Etwa die Hälfte der Jahressumme ist für Maßnahmen in Oranienburg vorgesehen“, sagt Brandt.

Die Stadt selbst plant jährlich zwei Millionen Euro für die Suche von Blindgängern ein, sagt Hans-Joachim Laesicke. In diesem Jahr müsse Oranienburg erstmals Kredite in Höhe von 11,5 Millionen Euro aufnehmen, sagt der Bürgermeister. „Ohne Bomben bräuchten wir dies nicht.“

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false