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Selbsthilfe zur Hilfe. Beim Kindernotdienst in Kreuzberg finden Kinder in Not seit 30 Jahren Zuflucht.

© Doris Spiekermann-Klaas

Kindesmisshandlungen: Wer schützt die Kinder?

Die Arbeit der Jugendämter ist schwierig. Das Elternrecht hat oft Vorrang und es gibt rechtliche Hürden. Am Tag der Zeugnisse hatten die Betreuer besonders viel zu tun – einige Schüler versteckten sich.

Von Ronja Ringelstein

Lärmende Kinder rannten lachend über den Schulhof, die Schultaschen locker geschultert und im Hausaufgabenheft waren keine lästigen Einträge – endlich Ferien! Doch nur glücklich war der letzte Schultag, der Tag an dem auch die Zeugnisse ausgeteilt werden, nicht. Beim Kinderschutzteam des Jugendamtes Neukölln liefen deshalb die Telefonleitungen heiß. Einige Kinder versteckten sich bei Lehrern oder Schulsozialpädagogen und wollten nicht nach Hause – aus Angst vor dem, was ihnen dort droht, wenn die Noten nicht gut genug sind.

Die Zahl der Kindesmisshandlungsfälle hat sich in Deutschland seit 2007 fast verdoppelt. Insgesamt gab es 2012 40 227 Anlässe der Inobhutnahme von Kindern in Deutschland, so das Statistische Bundesamt, doch viele Kindesmisshandlungen bleiben auch unentdeckt. Nach Erscheinen des Buches „Deutschland misshandelt seine Kinder“ der Rechtsmediziner Michael Tsokos und Saskia Etzold in dieser Woche bekommt die Problematik neue Aufmerksamkeit – und schnell wandert dabei der Zeigefinger auf den vermeintlich Schuldigen, verbunden mit der Frage, warum immer noch so viele Kinder misshandelt werden. Im Zentrum der Vorwürfe stehen vor allem die Jugendämter.

Wolfgang Mohns findet die Kritik der Buchautoren Tsokos und Etzold, die Jugendämter bemerkten vieles nicht, zu pauschal. Der Leiter des Jugendamtes Tempelhof-Schöneberg sagt: „Es gibt schließlich genaue Vorgehensweisen, die für Ämter zu beachten sind.“ Es dürfe nicht vergessen werden, dass das Elternrecht in Deutschland verfassungsrechtlich verankert ist. Es ist deshalb nicht so einfach, Kinder auf Verdacht aus der Obhut ihrer Eltern zu reißen. „Und das ist ja auch eigentlich gut so“, sagt Mohns.

Das Kinderschutzteam des Jugendamtes Neukölln ist eine neue Einrichtung, die auf Betreiben des Bezirksstadtrats Falko Liecke im November 2013 eingeführt wurde. Sechs neue Stellen wurden für Mitarbeiter geschaffen, die nun von 8 bis 18 Uhr täglich die Hotline des Bezirks betreuen. Wenn das Telefon klingelt, dann ist ein Polizeibeamter, ein mutiges Kind, ein Nachbar, das Krankenhaus oder ein Lehrer am Telefon – entweder mit schlimmen Nachrichten oder eben nur Vermutungen. „Wenn die Meldung dringend ist, wird sofort eingeschritten“, erzählt eine der Mitarbeiterinnen, die ihren Namen nicht nennen will. Immer zu zweit geht es dann los. Am gestrigen Zeugnistag mussten die Mitarbeiter mehrmals ausrücken und zu Schulen fahren. „Zuerst sprechen wir mit dem Kind, unter Umständen auch mit den Lehrern. Aber dann fahren wir zu den Eltern nach Hause und stellen sie zur Rede.“ Man müsse mit Eltern allerdings vorsichtig umgehen. „Das Jugendamt hat einen schlechten Ruf in der Bevölkerung“, weiß die Sozialpädagogin. Die beiden Mitarbeiter, die bei der jeweiligen Familie vor Ort sind, müssen schließlich abschätzen: Ist dieses Kind hier gefährdet? Das ist eine große Verantwortung, bei der es um gute Menschenkenntnis geht. Aber nicht jeder Mensch ist so leicht zu durchschauen.

Mohns, der seit den Siebzigerjahren beim Jugendamt Tempelhof-Schöneberg ist, klagt über Personalmangel, weshalb oft zu wenig Zeit bleibe. Denn seit Jahren wird Personal abgebaut. „Jugendämter stehen unter einem extrem hohen Kostendruck“, sagt Bezirksstadtrat Liecke, „aber mehr Personal kann durch gute effektive Arbeit auch Kosten senken.“ Liecke will, dass die Diskussion weiterbetrieben wird. Er fordert eine verbindliche Kooperation zwischen Jugend- und Gesundheitsämtern sowie den niedergelassenen Kinderärzten. Dies scheitert bislang noch oft am Datenschutz. Ein Arzt muss, bevor er das Jugendamt alarmieren kann, die Eltern selbst ansprechen.

Gestern bekam das Kinderschutzteam Neukölln einen Anruf aus dem Krankenhaus: Ein Kind ist nicht mehr für eine Folgebehandlung aufgetaucht, die Eltern sind unerreichbar. Das Kinderschutzteam ermittelte die Meldeanschrift und Schule des Kindes, doch von der Familie keine Spur. „Wir hoffen, dass sich die Eltern bald melden“, sagt die Sozialpädagogin, „sonst muss die Polizei verständigt werden.“ Vielleicht ist die Familie einfach in den Urlaub gefahren. Oft ist nur eines sicher beim Kinderschutz: Vieles ist auf den zweiten Blick ganz anders, als es am Anfang erscheint. Ronja Spießer

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