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Berlin: Werner Herbig (Geb. 1919)

Auf einmal steht er an der Spitze des Zuges.

Von David Ensikat

Am 17. Juni des Jahres 1993 sollte Werner Herbig eine Rede halten. Nicht dass ihm das unangenehm gewesen wäre, eine Rede zu halten, schon gar nicht an diesem Tag. Aber die Gedenktafel, die sie enthüllen wollten an der Ecke Leipziger-/Wilhelmstraße, die war ja viel zu klein. Zu weit oben sollte sie hängen, zu winzig die Schrift. Eine Rede hier, an dieser Stelle, vor diesem Ding, wäre so etwas wie ein Schlusswort gewesen: Das war’s, Freunde, wir sind am Ziel, dafür haben wir gekämpft.

Werner Herbig hielt die Rede nicht. Sein Kampf ging weiter. 40 Jahre zuvor hatte er begonnen, um 9 Uhr 30.

Görlitz, 17. Juni 1953. Der arbeitslose Pflanzenschutztechniker Werner Herbig muss wegen eines Ausweises zur Polizei. Da laufen die Beamten umher wie die aufgescheuchten Hühner, denn es gibt beunruhigende Meldungen aus der Hauptstadt: Streik! Aufruhr! Putsch! Herbig soll nach Hause. Auf der Straße kommt ihm ein Demonstrationszug entgegen, hunderte Arbeiter vom Lokomotiv- und Waggonbau-Werk, die gegen die hohen Normen protestieren. Jemand ruft: „Herbig, du gehörst zu uns! Los, hier rein!“ Den Ruf, der sein Leben verändert, wird er später oft und in diversen Varianten zitieren.

Auf einmal steht er an der Spitze des Zuges, und weil er an der Spitze des Zuges steht, machen die Görlitzer Demonstranten den arbeitslosen Pflanzenschutztechniker zum Mitglied ihres „Streikkomitees“. Es geht schließlich um etwas mehr als Norm und Streik. Dies ist ein Volksaufstand gegen die SED-Herrschaft. Politische Gefangene sollen befreit werden, und weil das Frauengefängnis auf dem Weg der Demonstranten liegt, öffnen sie hier alle Türen. Dann kommt das Rathaus dran. Der Bürgermeister wird festgehalten, die Leute von der Stasi-Zentrale entwaffnet und hinausgeworfen. In Bautzen sind die Aufständischen gründlich. Finanzamt, Post und Bahnhof besetzen sie. Nur in die Kaserne der Russen trauen sie sich nicht.

Es gibt Absprachen und Fantasien, wer soll, wenn die alte Herrschaft fort ist, welche Verantwortung übernehmen, Werner Herbig würde sich um Land- und Forstwirtschaft kümmern. Es gibt Versammlungen, und am späten Nachmittag schickt die Streikleitung die Demonstranten heim. Morgen wird man weitersehen.

Doch schon am selben Abend ist alles vorbei. Russische Soldaten rücken ein, der Bürgermeister zeigt, wo die Anführer des Aufstands wohnen. Er zeigt auf Werner Herbig: Der da war dabei!

Ein Monat Untersuchungshaft mit Verhörmethoden, die Häftlinge Dinge gestehen lassen, die sie nie getan haben, dann die Verhandlung ohne Verteidigung, dafür mit einem Richter, der die Anträge der Staatsanwaltschaft überbietet, und das Urteil für Werner Herbig: fünf Jahre Zuchthaus. Fast vier Jahre davon sitzt er ab mit kahlem Schädel und gelben X-Zeichen auf der Kleidung. Das ist das Zeichen für die „Agenten und Provokateure“ vom 17. Juni.

Zwei Jahre nach seiner Freilassung flieht er mit Frau und Sohn nach West-Berlin, findet Arbeit im Botanischen Garten und später beim Landesarchiv. Das sind gute Stellen, denn nebenher hat er viel Zeit zur Fortsetzung seines Kampfes.

Werner Herbig ist von robuster Natur. Die grausamen Jahre der Haft hat er besser überstanden als andere. Er gründet den „Arbeitskreis 17. Juni“ und kümmert sich darum, dass man den anderen glaubt, woher ihre Verletzungen stammen. Er ist einer jener störenden Geister, die den 17. Juni als Gedenktag ernst nehmen.

Im Sommer 2000 wird ein Denkmal eingeweiht, dort, wo seit 1993 die Gedenktafel hängt. Ein großes Foto vom Volksaufstand, in den Boden eingelassen. Werner Herbig ist zufrieden, endlich. Auch wenn sich für das neue Denkmal nicht mehr viele interessieren.

Nach einem früheren Plan sollte hier ein Spruch in Leuchtschrift an den Aufstand erinnern: „wer bin ich, dass ich sagen könnte – eine heroische tat“. Werner Herbig hat dagegen protestiert, selbstverständlich. Er war einer derjenigen, die das sagten, immer wieder: „Eine heroische Tat!“ David Ensikat

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