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Berlin: Werner Max Finkelstein (Geb. 1925)

Vor den Nazis hatten sie eigentlich fliehen wollen

Eigentlich sind es drei Geschichten. Eine abenteuerliche, eine traurige und eine glückliche. Kein Junge in seinem Alter hat wohl je eine so weite Reise gemacht. Mitte März 1941 ging es los. Zwei Köfferchen hatte er dabei, darin „Knaurs Lexikon“, das Buch „Jüdisches Fest, jüdischer Brauch“ und viel warme Wäsche. Mit der Eisenbahn fuhr er von der russisch-finnischen Grenze nach Wladiwostok. Von dort mit dem Schiff nach Japan, dann weiter nach Hawaii, wo er seinen 16. Geburtstag feierte. Waikiki! Der Strand der Träume. Er durfte nicht von Bord, erhielt aber eine Ananas als Geburtstagsgeschenk. Seine warme Wäsche hatte er da schon längst verkauft.

Auf der Weiterfahrt geriet das Schiff in einen Taifun, ohne Schaden kamen sie davon, erreichten die amerikanische Küste. In San Francisco ging er an Land, er besaß kein Visum, aber er hatte dem Zollbeamten sein Ehrenwort gegeben. Der erste Hot Dog! Auch in Los Angeles durfte er kurz an Land. Die erste Coca-Cola! Dann ging es weiter Richtung chilenische Küste, bis sie schließlich Bolivien erreichten. Von wegen tropisches Klima! La Paz liegt 4000 Meter hoch. Er fror, aber seine Mutter erwartete ihn schon. Zur Begrüßung gab es Bauernfrühstück und Schokoladenpudding.

In Deutschland hatte er die Schule nicht beenden können, aber in Bolivien gab es auch so Jobs zuhauf. Er arbeitete im Straßenbau, half bei der Errichtung des neuen Wasserkraftwerks und schaffte Salzblöcke von den Anden in den tropischen Urwald. Er jagte Krokodile, bewachte Schwerverbrecher im Gefängnis von La Paz und registrierte mit Erstaunen, dass sich die Insassen dort mit ihren eigenen Schlössern einschlossen: aus Angst vor den Vollzugsbeamten. Er verunglückte wiederholt mit dem Lastwagen, überlebte nur knapp eine Bruchlandung mit dem Flugzeug, zog sich einen Indio-Pfeil aus dem Arm.

Unzählige Gefahren! Die Zahl der Vergnügungen hingegen war sehr überschaubar: mit dem Revolver auf leere Dosen schießen oder auf dem Prado flanieren. Die Emigranten blieben weitgehend unter sich. Von den alteingesessenen weißen Bolivianern wurden sie als Hungerleider verachtet. Die Indios wiederum schätzten sie gering, weil sie Weiße waren.

Das Ende des Krieges erlebte er in Trinidad, einem verschlafenen Urwaldnest, das einen eigenen Bischof besaß, der sich weigerte, anlässlich des Sieges der Alliierten eine Dankesmesse abzuhalten. Er durchquerte die Kathedrale mit Hitlergruß und ließ einen subalternen Pfarrer die Messe halten. Vor den Nazis hatten sie eigentlich fliehen wollen

Die Eltern besaßen ein kleines, gut gehendes Kaufhaus in Gumbinnen. Eine glückliche Kindheit in Ostpreußen. Der Vater war Patriot, Freiwilliger im Ersten Weltkrieg – und Jude. 1935 zogen sie nach Berlin, in den Schutz der Großstadt, Siegmunds Hof 2, nahe der S-Bahnstation Tiergarten. Der Vater starb wenige Monate später. Die Mutter vermietete zwei der Zimmer, um über die Runden zu kommen; eins an einen orthodoxen Rabbiner, das andere an einen Propagandisten der Naziregierung.

Wie viel war ihr Leben wert? 1000 Dollar pro Person, so viel musste die Mutter für die Visa nach Bolivien bezahlen. Die Verwandten, die keine Visa mehr bekamen, wurden fast alle ermordet.

La Paz wurde Werner zu klein, es zog ihn nach Buenos Aires. Verwegen sah er aus: Borsalino, Schnurrbart nach Machoart, Zigarette mit langer Spitze. Er war ein Mann der Frauen, und bald fand sich auch die schönste Frau des Landes an seiner Seite, ein Modell, aber sie verdiente zu viel, da konnte er nicht mithalten.

Ein Job fand sich immer für ihn, aber selten war er gut bezahlt. Er arbeitete als Möbelverkäufer und Vertreter für Autoscheinwerfer. Nebenbei brachte er sich noch das Schlagzeugspielen bei, war Mitbegründer des „Hot Club de Buenos Aires“, und er hegte immer noch einen großen Traum: Journalist werden.

Er heuerte als Redakteur beim „Argentinischen Tageblatt“ an, betreute 33 Jahre lang alles, was anlag, von der Briefmarken-Ecke bis zur Weltpolitik. Sein Talent fiel auf, und so wurde ihm 1979 von der Theodor-Herzl-Gesellschaft die Leitung des „Semanario Israelita“ übertragen, Sprachrohr der jüdischen Emigranten.

Es war kein wirklich gutes Leben unter Perón und Evita: Günstlingswirtschaft, Korruption, die Missgunst untereinander. Er brauchte drei Jobs zum Überleben. Vormittags „Semanario“, nachmittags Bijouterie-Verkauf und abends das „Tageblatt“. Unter der Militärjunta wurde es noch schlimmer, zur wirtschaftlichen Not kam die ständige Furcht, von ihren Schlägertrupps entführt und gefoltert zu werden.

Werner Finkelstein hatte viele Freunde, aber er fühlte sich nie wirklich heimisch. Die deutschsprachigen Leser starben aus. Seine Kinder interessierten sich nicht für die alte Heimat und die Sprache ihres Vaters, sie fühlen sich als Argentinier. Da kam eines Tages eine junge Deutsche in die Redaktion, um ein Praktikum zu machen. 49 Jahre jünger als er. 1999 zog Max mit Kerstin zurück nach Berlin, eine kleine Wohnung, nahe der S-Bahnstation Tiergarten. Er fühlte sich wieder daheim. Die einzige Sorge, die ihn umtrieb: Was ein alter Mann wie er ohne Reichtümer einer jungen Frau noch zu bieten hatte. Als Antwort hätte er eigentlich nur seinen Lieblingstitel summen müssen: „I can’t give you anything but love“. Gregor Eisenhauer

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