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Berlin: Werner T. Angress (Geb. 1920)

"Ich stehe außerhalb. Deutschland will mich nicht"

Er kehrte als Sieger nach Deutschland zurück, aber es war ein Triumphgefühl, das sich mit fassungslosem Entsetzen mengte. „Long may he rot“, so feierten er und seine amerikanischen Kameraden die Nachricht vom Tod Hitlers. Es war Anfang Mai 1945, die 82. amerikanische Division hatte die Elbe überquert und 150 000 deutsche Gefangene gemacht. In diesen Tagen entdeckte ein Vortrupp auch das Lager Wöbbelin, ein Außenlager des KZ Neuengamme.

„Zu diesem Zeitpunkt hatte ich noch nichts von der ,Endlösung’ gehört, kannte das Wort Auschwitz nicht …“

Der Anblick, der sich den amerikanischen Soldaten bot, war grauenhaft. „In der Waschbaracke waren die Leichen verhungerter Häftlinge teils aufgestapelt wie Holzstämme, teils lagen sie wirr neben- und übereinander auf dem verdreckten Boden, viele von ihnen schon im Zustand der Verwesung.“

Werner Angress war um so entsetzter, als er nicht wusste, wie es seiner in Holland zurückgebliebenen Familie ergangen war. Ihm selbst war 1939 die Flucht nach Amerika gelungen, aber kaum war der Krieg gegen Hitler erklärt, meldete er sich bei der Armee. Er wurde Verhörer, hatte die Aufgabe, Gefangene nach kriegswichtigen Informationen abzufragen.

Obwohl nie zum Fallschirmjäger ausgebildet, wurde er bei der Invasion in der Normandie der Luftlandedivision zugeteilt. Er geriet in deutsche Gefangenschaft und wurde wenige Wochen danach wieder befreit. Mit viel Glück überlebte er den Feldzug in Holland und die Ardennenschlacht.

Kurz nach Kriegsende meldete er sich bei seinem General, bat um Urlaub sowie die Benutzung eines Jeeps und fuhr nach Amsterdam. Es war Sonntag, Muttertag. Er klingelte an dem Haus, wo er seine Eltern und Brüder 1939 zum letzten Mal gesehen hatte. Ein Mann öffnete und verwies ihn an ein Haus um die Ecke. Die Mutter öffnete. Sie war zum Skelett abgemagert, aber sie hatte im Untergrund überlebt. Die Brüder Fritz und Hans ebenfalls. Der Vater? Er hatte nicht den Mut zum Untergrund gehabt und starb in Auschwitz.

Werner Angress hatte eine glückliche Kindheit in Berlin verlebt. Der Vater war preußisch streng, aber liebevoll, die Mutter lebensfroh und leicht aufbrausend, insbesondere bei Werner, dessen Zuneigung sie wechselnd mit Ohrenziehen und Liebesmahnungen zu erringen suchte. „Willst du mir nicht einen Kuss geben?“ Eine Aufforderung, der er meist mit essigsaurer Miene nachkam.

In Westend war wenig von der wirtschaftlichen Misere der Inflationszeit zu spüren. „Natürlich wunderte ich mich darüber, dass so viele Menschen bettelten, dass oft recht alte Männer und Frauen auf dem Hof einen Leierkasten drehten und dazu Lieder sangen wie ,Das Einzige, was ich noch auf Erden hab / das ist die Rasenbank am Elterngrab’ – aber das war schnell vergessen, wenn es galt, dem Bruder, der unglücklicherweise die Rolle des Siegfried übernommen hatte, den zugespitzten Besenstiel zwischen die Schulterblätter zu bohren.“

Dann kam die Pubertät, was ihm anfangs fast noch unangenehmer schien als die Nazis, und die neue Schule, weil die teure Wohnung im Westend nicht mehr zu halten war.

„Bist du der Neue?“, fragte ein Mitschüler. Werner nickte. „Biste der Jude?“ Er nickte wieder. Und prompt kam die Aufforderung: „Stell dich an die Wand, sonst wirste gelyncht!“ Noch war das die Ausnahme, ebenso wie der Lehrer, der Rassekunde zu demonstrieren suchte: „Dieser Junge hier“, er wies auf Werner Angress, „hat einen sehr gut ausgebildeten dinarischen Kopf, ganz wie unser Reichspropagandaminister Dr. Goebbels.“ Die Klasse hielt sekundenlang den Atem an, dann brachen die Lachsalven los. Der Rassekundler hatte den einzigen Juden der Klasse zum Arier erkoren.

Werner verstand all das nicht; er, der so gern deutsch gewesen wäre, wurde allenthalben ausgegrenzt. Er trat einem jüdischen Jugendbund bei, „Schwarzes Fähnlein, Jungenschaft“, die stramm, sportlich, tüchtig, „deutsch bis in die Knochen“ auftraten – in der Hoffnung, „das Regime würde irgendwann anerkennen müssen, dass wir Juden schließlich und endlich doch Deutsche seien.“

Es kam anders, wie er in seinem Tagebuch kurz nach Verkündung der Nürnberger Rassegesetze notierte: „Ich stehe außerhalb. Deutschland will mich nicht und ich will die Juden nicht. Gut, ich bin allein. Scheiß drauf.“

Allmählich dämmerte Werner, dass die Nazis nicht nur die Teilstrecken bei der BVG eingeführt hatten – worüber er mit seinem stets knappen Taschengeld hoch erfreut gewesen war – sondern dass sie seiner Familie nach dem Leben trachteten.

1936 verließ er Berlin, um in Schlesien auf dem Auswandererlehrgut Groß Breesen als Landwirt ausgebildet zu werden. Hier schloss er Freundschaften, die ein Leben lang hielten. Und war sicher vor antisemitischen Anfeindungen.

Der Vater hatte im Herbst 1937 beschlossen, mit der Familie Deutschland zu verlassen, die Flucht führte über London nach Amsterdam. Für Werner war das alles ein großes Abenteuer, er trampte mit einem Freund durch Holland und Frankreich und ging schließlich an Bord eines Auswandererschiffes nach Amerika. Als Farmer in Virginia begann er sein neues Leben, als Soldat kehrte er nach Europa zurück. Nach seiner Entlassung aus der Armee gründete er eine Familie, lehrte in Amerika deutsche und europäische Geschichte. Dann, fünfzig Jahre nach der Vertreibung, ließ er sich in seiner Heimatstadt Berlin nieder. Und wurde wieder der unbefangene, neugierige Junge, der er gewesen war. Gregor Eisenhauer

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