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Berlin: Werteunterricht für alle Schüler

Warum das neue Fach nicht zugunsten von Religion abgewählt werden darf Von Klaus Wowereit

Es ist wahr, dass die Werte unserer Gesellschaft zu einem wesentlichen Teil aus den Lehren der christlichen Kirchen und ihrem Einfluss auf unsere Kultur und Geschichte entspringen. Ebenso wahr ist, dass die mit der europäischen Aufklärung einhergehende Trennung von Kirche und Staat ein historischer Fortschritt war und die Entwicklung des demokratischen Staates in einer liberalen Gesellschaft positiv beeinflusst hat.

Einerseits kann heute in Weltanschauungsdingen jeder nach seiner Façon glücklich werden, andererseits garantiert der Staat in seiner weltanschaulichen Neutralität den institutionellen Rahmen freier Glaubensausübung. Dabei haben die Kirchen ihren unumstrittenen Platz in der Gesellschaft, der Umgang von Staat und Kirchen ist von Respekt gekennzeichnet. Ich bin der Auffassung, dass die neutrale Rolle des Staates gegenüber den Religionen sich nicht nur bewährt, sondern sich angesichts der Vielfalt von Weltanschauungen in unserer Gesellschaft zunehmend als vernünftig erweist. Weltanschauliche Neutralität bedeutet aber keineswegs Wertelosigkeit.

Die moralische Kraft der im Grundgesetz verankerten Grundrechte definiert den Wertehorizont, der zum normativen Maßstab für alle geworden ist. Davon profitiert auch die Religionsausübung. Sie ist durch die grundgesetzlich garantierte Glaubensfreiheit geschützt. In diesem Kontext muss auch die Stellung des Religionsunterrichts in der Schule diskutiert werden. In Berlin gilt dabei die so genannte Bremer Klausel. Danach ist der Religionsunterricht in Berlin nicht ordentliches, sondern freiwilliges Unterrichtsfach. Auf dieser Basis haben die Kirchen auch Zugang zu Berliner Schulen.

Wir sind in der historisch neuen Lage, dass die Pluralität unserer offenen Gesellschaft neue Fragen aufkommen lässt: Einerseits beanspruchen gerade in unserer multikulturellen Stadt mehrere Religionen Zugang zur Schule, andererseits gibt es immer mehr Kinder, die in unserer säkularisierten Welt kaum noch Zugänge zu Religion haben. Was bedeuten diese neuen Entwicklungen für den Staat, seine schulischen Verpflichtungen und für den Religionsunterricht? Zunächst ist mit einem Missverständnis aufzuräumen. Werteunterricht ist nicht an Ethik/Philosophie oder neue Fächer wie LER gebunden, aber auch nicht an Religion allein. Lessings Ringparabel im Deutschunterricht ist allerbeste Wertevermittlung, kein Geschichtsunterricht ist ohne Ideengeschichte zu denken und auch Erdkunde, Physik, Biologie oder andere Fächer können auf Wertedebatten nicht verzichten. Insofern ist eine Einführung von Werteunterricht kein Allheilmittel, auch führt seine Abwesenheit nicht automatisch zum weiteren unaufhaltsamen Niedergang unserer abendländischen Kultur.

Dennoch: Die Einführung eines Werteunterrichts ist eine richtige Antwort auf die oben geschilderten gesellschaftlichen Veränderungen. Wichtig dabei ist seine allgemeine Verbindlichkeit, eine Abwählbarkeit zu Gunsten eines Religionsunterrichts würde verhindern, dass alle alles kennen lernen. Und genau dies halte ich für eine elementare Voraussetzung zukünftiger Toleranz. Es muss vermittelt werden, was die verschiedenen Religionen ausmacht, gegenüber denen Toleranz geübt werden soll. Insofern ist der allgemein bildende Anspruch von Werteunterricht kein Angriff auf die Religionsgemeinschaften, sondern eine zeitgemäße Antwort auf die Vielfalt unserer Gesellschaft.

Selbstverständlich sind die Kirchen aufgefordert, sich aktiv in den Unterricht einzubringen. Sie sollen auch in Zukunft die Möglichkeit haben, selbst die Grundzüge ihrer Religion darzustellen.

Aber gerade weil die Lebens- und Glaubensformen vielfältiger werden, ist die staatliche Neutralität kein misstrauisch zu duldender Umstand, sondern eine gute Basis für unser Zusammenleben. Denn mehr noch als je zuvor kann sie glaubhaft garantieren, dass niemand diskriminiert, aber auch niemand privilegiert wird.

Wir wollen, dass die Kirchen Zugang zu unseren Schulen haben. Selbstverständlich – und dies sei in Richtung islamischer Fundamentalisten gesagt – muss sich der eigenverantwortete Religionsunterricht auf dem Boden unserer Verfassung bewegen. Dies immer wieder neu auszutarieren, wird Aufgabe des moderierenden Staates sein, der nicht Anwalt der Kirchen sein kann, sondern die Autorität des Grundgesetzes vertritt.

Werteunterricht als verbindliches Fach für alle Schüler richtet sich nicht gegen den freiwilligen Religionsunterricht, sondern kann einen Beitrag zur Beseitigung eines von vielen beklagten Wertezerfalls in unserer Gesellschaft leisten.

Der Autor ist Regierender Bürgermeister von Berlin und Sozialdemokrat. Der Beitrag gehört zu unserer Reihe mit Positionen zum Thema Ethik- und Religionsunterricht. Bisher schrieben: Grünen-Fraktionschef Volker Ratzmann (5. März), Bildungssenator Klaus Böger, SPD (6.März), Wilfried Seiring, Direktor des Ausbildungsinstituts für Humanistische Lebenskunde an der Technischen Universität (24. März), CDU-Fraktionschef Nicolas Zimmer (27. März), Kultursenator Thomas Flierl, PDS (29. März), Martin Kirchner, Superintendent des evangelischen Kirchenkreises Berlin-Wedding (30. März), FDP-Fraktionschef Martin Lindner (5. April).

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