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Berlin: Wie eine Schlange ohne Kopf

Die Hennigsdorfer Lokbauer wollten nur bis zum Stahlwerk ziehen. Doch sie marschierten bis Ost-Berlin. Karl-Heinz Benditz war damals dabei – jetzt ist er den Weg noch einmal gegangen

„Ungefähr hier rollten die Panzer“, sagt Karl-Heinz Benditz, „und dort drüben bildeten die Volkspolizisten einen Kordon. Wir standen dazwischen. Waren irgendwie eingekesselt. Und allmählich begriffen wir: Zu spät. Vorbei. Aber nicht umsonst.“

Der einstige Konstrukteur aus dem LEW Hennigsdorf ist 72, was man ihm nicht glauben möchte. Aber jetzt, in diesem Moment vor dem einstigen Haus der Ministerien, ist er wieder 22, wie damals, am Nachmittag des 17. Juni 1953. Wo sich die Wilhelm- mit der Leipziger Straße kreuzt, wird die Erinnerung lebendig: „Wir haben in ohnmächtiger Wut die Panzer mit Steinen beworfen, das klang so, als ob man eine Sparbüchse schüttelt. Ganz Mutige sind drauf geklettert und haben die Antennen abgeknickt. Wenn es den sowjetischen Panzersoldaten zu unheimlich wurde, schossen sie mit ihren MG, aber nicht in die Menschen, sondern über die Köpfe hinweg. Die Patronen klatschten gegen die Wände der Häuser.“ Wer genau hinschaut, sieht die Einschüsse noch heute. Der Platz vor dem jetzigen Finanzministerium ist der Endpunkt der Reise in die Vergangenheit von Karl-Heinz Benditz.

Vor 50 Jahren marschierte der junge Werkzeugmacher aus Hennigsdorf, der sich abends in einer Weddinger Ingenieurschule zum Konstrukteur fortbildete, mit acht- oder auch zehntausend Lokomotivbauern und Stahlwerkern nach Berlin, um denen da oben zu zeigen, was der Arbeiter wirklich will: besser leben, ohne Angst reden, keinem kollektivem Zwang ausgesetzt sein und frei wählen können. „Noch 1953 musste ich simple Fahrrad-Ersatzteile zum Kurs eins zu zehn in Tegel kaufen. Bei uns war das Nötigste nicht da oder unverschämt teuer. Immer mehr Leute verließen die DDR. Und dann noch diese Normerhöhungen – es war der Tiefpunkt. Ja, es lag etwas in der Luft. Und dann passierte dieses unerhörte Ding: Unsere Lokomotivbauer versammelten sich erst in den Werkhallen, dann auf dem Hof, schließlich formierte sich ein Zug; wir wollten zum nahen Stahlwerk, um die Kollegen dort wachzurütteln, auch wenn uns der Betriebsfunk aufrief, im Werk zu bleiben. Nein, die Erregung war zu groß.“

50 Jahre später zeigt uns Karl-Heinz Benditz die Stationen, die sie damals gegangen sind: Lokbauer und Stahlkocher in Arbeitsklamotten mit Hunger und Wut im Bauch, manche mit Holzpantinen, Frauen in Kittelschürzen, aber auch Konstrukteure und Angestellte machten sich auf den Weg. Bis zur Regierung sind es 27 Kilometer – durch West-Berlin. Sie zeigten es allen: Wir sind Volkes Wille – nicht Spitzbart, Bauch und Brille, also Ulbricht, Pieck und Grotewohl.

Ein heute hell getünchtes Wohnhaus war das Hauptquartier der Grenzschutzkräfte. Karl-Heinz Benditz sieht sie heute noch hinter den Fenstern, die Offiziere mit ihren versteinerten Gesichtern. Nahe der Eisenbahnbrücke, kommen zwei bewaffnete Grenzer auf ihren Fahrrädern. Unversehens sind sie umzingelt. Jeder spürt ihre Angst. Was geschieht? Ein älterer Arbeiter sagt: „Kollegen, wir sind besser als die. Lasst sie fahren!“ Alle atmen auf und jubeln, als plötzlich die Kollegen vom Stahlwerk kommen. Die beiden Züge vereinen sich. Spontan wird beschlossen, nach Berlin zu gehen. „Nun wollten wir, dass die ganze Bande abtritt und freie Wahlen möglich werden.“

Es beginnt zu regnen. Neue Bewährungsprobe, kurz vor der Havelbrücke: Drei oder vier stramme Parteigenossen stellen sich dem Zug in den Weg. Einige Schmelzer laufen ihnen drohend entgegen. Die Funktionäre reißen aus, geraten auf eine sumpfige Wiese, werden eingeholt. Zur Strafe wird der Ranghöchste von zwei Stahlwerkern flankiert – und muss mitmarschieren. Wo heute das gelbe Schild „Berlin, Bezirk Reinickendorf“ steht, sperrte vor 50 Jahren ein dicker Baumstamm die Straße nach Heiligensee. Zweihundert Männerarme schieben die Grenze beiseite. Aber nun, im Westen, hält die Polizei den Zug auf, weil die spontane Demonstration keiner genehmigt hat. Nach längeren Verhandlungen lässt man die Hennigsdorfer ziehen. Doch ab Tegel sperren Verkehrsregler Kreuzungen, um Autos durchzulassen. Die Geschäftsleute der Müllerstraße bringen den Streikenden Kaffee und Kuchen, Brötchen und Brause.

In der Chausseestraße wird das Schild „Hier beginnt der demokratische Sektor“ abmontiert und wie eine Trophäe hochgehalten. Junge Leute brechen Buchstaben aus dem Schriftzug „Walter-Ulbricht-Stadion“ heraus. Als sie rote Fahnen zerfetzen wollen, protestieren ältere Kollegen: So nicht! Karl-Heinz Benditz wird an der Stelle, wo es längst kein Stadion mehr gibt, nachdenklich: „Hier schien der Zug unendlich. Vielleicht war dies der Höhepunkt. Meine Begeisterung ließ nicht zu, dass ich unsere wahre Lage erkannte. Wir waren eine Schlange ohne Kopf. Während des ganzen Marsches war nicht darüber gesprochen worden, was zu tun wäre, wenn wir vor dem Haus der Ministerien ankommen . . .“ Dann gerät alles ins Stocken. Inzwischen herrscht der Ausnahmezustand. An der Kreuzung Linden-/Friedrichstraße lässt sich ein Teil des Zuges zum Alex abdrängen, die Hennigsdorfer ziehen weiter. Viele Berliner verstärken den Zug, der keine Hennigsdorfer Demonstration mehr ist. „Als wir endlich in die Nähe vom Haus der Ministerien kommen, brennt hinten am Potsdamer Platz ein Haus. Russenpanzer schießen, Menschen flüchten. Der Traum ist aus.“

Mitten in Hennigsdorf steht ein Denkmal: eine Stele aus Stein für den 17.Juni 1953, eine aus Stahl für den 9.November 1989. Genau 36 Schritte trennen ein Ereignis vom anderen, jeder Schritt ein Jahr. „Wir haben gezeigt, dass man nicht alles mit uns machen kann“, sagt Karl-Heinz Benditz. „Wir haben unsere Menschenwürde bewahrt.“

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