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Berlin: Wildtier in der Stadt: Liebestoller Hirsch irrte durch die Spandauer Altstadt

Liebe macht nicht nur Menschen bisweilen blind. Auf der Brautschau in seinem Revier im Grunewald verlor gestern früh ein stattlicher Damhirsch die Orientierung.

Liebe macht nicht nur Menschen bisweilen blind. Auf der Brautschau in seinem Revier im Grunewald verlor gestern früh ein stattlicher Damhirsch die Orientierung. Die herbstlichen Frühlingsgefühle zum Auftakt der Brunftzeit ließen den kräftigen Bock etliche Kilometer von seinen angestammten Waldwegen abkommen, bis er sich in die Spandauer Altstadt verirrte. Das letzte Stück Strecke legte das liebestolle Tier mit Polizeieskorte zurück und fand sich schließlich auf dem Hof einer Bankfiliale wieder, wo ein Förster das Triebleben des Waldbewohners mit dem Betäubungsgewehr vorerst beruhigte.

Gegen acht Uhr früh hatten Passanten den Hirsch auf einem Parkplatz an der Krowelstraße bemerkt und die Polizei verständigt. Angesichts der Ordnungshüter flüchtete das Tier zunächst über die Straßburger Straße bis zur Dischingerbrücke. Dort gelang es den Beamten mehrerer Funk- und Zivilstreifen, den Bock einzukreisen. Doch das mächtige Geweih ließ die Polizisten sichere Distanz wahren. Schießen wollten sie nicht auf den Vierbeiner. Wieder gelang es dem liebeskranken Hirsch zu entkommen.

Im Schutz einer Blaulicht-Eskorte überquerte der Bock die stark befahrene Kreuzung Klosterstraße / Brunsbütteler Damm, um dann seinen Weg auf dem Radweg des Altstädter Ringes in Richtung Norden fortzusetzen. Auf einem Parkplatz konnte das Tier von seinen Verfolgern eingekreist werden. Doch mit einem kräftigen Sprung befreite sich der Hirsch erneut und marschierte zum Schrecken der Beamten direkt in Richtung Fußgängerzone. In letzter Minute gelang es, den Geweihträger durch die geöffnete Tür in den eingezäunten Hof der Commerzbank-Filiale an der Moritzstraße abzudrängen. Direkt am begrünten Ufer des Mühlengrabens gelegen und mit alten Bäumen bewachsen, muss den triebgeplagten Irrläufer die Szenerie an den heimischen Wald erinnert haben.

Der Hirsch saß in der Falle. Polizeibeamte umstellten den Hofgarten und alarmierten den Hakenfelder Revierförster Dirk Köster. Da in ein bis zwei Wochen die Brunftzeit beginnt, zeigte sich der Waidmann von den Eskapaden des auf etwa fünf Jahre geschätzten Tieres wenig überrascht. Zum Entsetzen der inzwischen zahlreichen Schaulustigen griff er zum Gewehr - doch das war nur mit Pfeilpatronen geladen. Diese enthielten ein Schmerz- und Betäubungsmittel, das den stark erregten Bock beruhigen sollte. Zweimal legte Köster an, zwei Pfeile klatschten in den Rücken des Tieres, das zunächst keine Wirkung zeigte.

Amüsiert diskutierten die Zuschauer inzwischen die Frage, ob der Hirsch sich in der Bank wohl mit Geld versorgen wollte, um eine bessere Partie zu bieten. Nur ein Ehemann versuchte vergeblich, zu seinem Termin in das Büro eines Rechtsanwalts zu kommen, das nur über den Hof zu erreichen war. "Die Scheidung wird abgesagt", kommentierte eine Passantin. Indessen begann das Tier zu torkeln, legte sich genau vor die Tür der Anwaltspraxis und fiel in einen unruhigen Schlaf.

"Ich lasse mich doch lieber scheiden", widersprach der Mann, während der Hirsch vorsorglich mit Seilen gefesselt wurde. Kräftige Hände hievten das Tier gegen elf Uhr auf einen Kleinlastwagen des Forstamtes. Der Irrläufer wurde zurück in den Grunewald gefahren und wieder ausgesetzt. Nach dem Erwachen aus dem rund einstündigen Schlaf wird der Geweihträger nach vorübergehender Gehschwäche wieder ganz der Alte sein, versicherte der Förster. Bei dem kräftigen Brummschädel, den das Tier nach seiner Betäubung zu erwarten hat, mag der Bock seinen unromantischen Abstecher in die menschliche Zivilisation nur noch für einen schlechten Traum halten.

Von wenigen Ausnahmen abgesehen (siehe Kasten), sind es in den meisten Fällen einheimische Tiere, die aus Berliner Forsten und den Wäldern des Umlandes zuweilen in Richtung Stadtluft schnuppern. Vor allem Wildschweine suchen immer wieder menschliche Nähe, in der sie Vorgärten verwüsten oder auf der Suche nach Nahrung Komposthaufen und Mülltonnen durchwühlen. Im April dieses Jahres nutzte eine Wildschweinbache den Friedhof an der Heerstraße als Kinderstube für ihre Frischlinge. Tagelang blieb das Gräberfeld für Besucher gesperrt, Beerdingungen fanden unter Polizeischutz statt, bis die Bache und ihre Jungen vom Amtsveterinär betäubt und im Wald ausgesetzt wurden.

Rainer W. During

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