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Berlin: „Wir finden die Kinder oft zu spät“

Jugendamtsleiter Thomas Harkenthal ist alarmiert über die zunehmende Zahl von Vernachlässigungen und die Alles-Egal-Mentalität überforderter Eltern

Es fällt schwer, noch von Ausnahmen zu sprechen: „Kleinkinder lebten im Unrat“, meldete die Polizei Anfang Dezember aus Marzahn. „Geschwister in verwahrloster Wohnung gefunden“, hieß es Mitte Dezember aus Mitte. Jetzt entdeckte man erneut sieben Kinder und Jugendliche, die in völliger Verwahrlosung lebten. Laut Polizei ist die Zahl der angezeigten Vernachlässigungen 2006 deutlich gestiegen. Der Kinderschutzbund warnte gestern, der Schutz der Jüngsten in Berlin sei nicht „flächendeckend gewährleistet“. Es gebe immer mehr Familien, die nicht in der Lage seien, sich vernünftig um ihren Nachwuchs zu kümmern.

Herr Harkenthal, leben Kinder in Berlin gefährlich?

Die allermeisten Kinder sicherlich nicht. Richtig ist aber, dass wir es immer öfter mit Familien zu tun bekommen, die die einfachsten Dinge des Lebens nicht mehr geregelt bekommen. Wenn ein Kleinkind in eine solche Hochrisiko-Familie hineingeboren wird, kann es aber tatsächlich sehr gefährlich werden.

Beschreiben Sie doch mal die Zustände, die Ihre Mitarbeiter vorfinden?

Es sind Familien, die in unsicheren Verhältnissen leben. Väter und Mütter, die keinen Abschluss haben, keine Ausbildung, keinen Job. Eltern, die sich seit Jahren keinen Wecker mehr gestellt haben. Man sitzt den ganzen Tag vorm Fernseher, oft ist Alkohol im Spiel. Es gibt Wohnungen, in denen niemand von uns eine Tasse Kaffee annehmen würde, weil sich in der Küche der Müll türmt, Schimmel an den Wänden sitzt, und die Haustiere im Wohnzimmer ihren Unrat verrichtet haben. Die Kinder zu wecken, Frühstück zu machen, sie im Winter warm anzuziehen – all das scheint diese Eltern völlig zu überfordern.

Die Polizei beklagt, dass bei diesen Eltern eine völlige „Egal-Stimmung“ herrsche. Stimmt das?

Das deckt sich mit unseren Erfahrungen. Ganz einfache Regeln des täglichen Lebens scheinen zu viel für die Familien zu sein. Oft reagieren diese Eltern völlig verblüfft, dass der Strom abgestellt wird, wenn man monatelang keine Rechnung bezahlt. Oder sie scheinen schlicht nicht zu begreifen, dass es teuer ist, wenn man stundenlang mit dem Handy telefoniert. Da scheint es einen furchtbaren Verdrängungsmechanismus zu geben.

Aber gab es solche Familien nicht schon immer?

Sicher, aber das Erstaunliche ist, dass es inzwischen eine solche Breite angenommen hat.

Von wie vielen Familien sprechen wir?

Dazu haben wir keine Erhebungen, doch der Soziologe Klaus Hurrelmann geht davon aus, dass bundesweit etwa ein Prozent der Eltern nicht in der Lage sind, ihr Leben selbst zu organisieren, geschweige denn das ihrer Kinder. Demnach kommt man bei 800.000 Neugeborenen pro Geburtsjahrgang auf rund 80.000 gefährdete Kinder unter zehn Jahren.

Und wie sieht es in Kreuzberg-Friedrichshain aus, dem Bezirk mit der schlechtesten Sozialprognose?

Mit Sicherheit ist der Prozentsatz der Hochrisiko-Familien hier deutlich höher. Gesichert ist: 6,3 Prozent der Familien mit Kindern bekommen in Kreuzberg-Friedrichshain Hilfen zur Erziehung. Doch viel mehr Sorgen bereiten uns als Jugendamt gerade die Familien, von denen wir nichts wissen.

Die dann eher zufällig von der Polizei entdeckt werden?

Ja, denn so wie jetzt die Rechtslage ist, kommen wir als Jugendamt an die Familien, die es am nötigsten haben, nicht heran.

Weil das reformierte Kinder- und Jugendhilferecht voll auf die Mitwirkung der Eltern setzt und auf die Freiwilligkeit?

Ja, wir kommen dann erst ins Spiel, wenn es beispielsweise von einem Nachbarn, dem Arzt oder der Schule Hinweise auf Vernachlässigung oder Misshandlung gibt. Aber das ist eben oft zu spät. Richtig ist, dass wir uns diese Zustände vor 40 Jahren noch gar nicht vorstellen konnten. Aber wie alle diese Fälle von Kindesvernachlässigung und -misshandlung zeigen, ist es ein eklatanter Fehler, dass sich der Staat bei der Erziehung auf diese Rolle zurückzogen hat. Wir müssen jetzt über eine neue Form der sozialen Kontrolle nachdenken.

Die Bundes-SPD will jetzt Pflichtuntersuchungen für Kinder einführen. Was halten Sie davon?

Das wäre sicherlich ein Ansatz, um früher eingreifen zu können, wenn ein Kind vernachlässigt wird. Auch hier in Berlin hat sich im vergangenen Jahr einiges bewegt. Auf Landesebene haben wir in Zusammenarbeit mit den Senatsverwaltungen Jugend, Gesundheit und Soziales das Konzept „Netzwerk Kinderschutz“ erarbeitet. Es soll die Koordination und Kooperation aller Beteiligten verbessern. Ferner erhoffen wir uns neue Erkenntnisse durch statistische Erhebungen. Und wir richten eine neue Hotline ein, bei der um Kinder besorgte Bürger rund um die Uhr anrufen können.

Aber die Pflichtuntersuchung hat man ins „Netzwerk Kinderschutz“ nicht mit aufgenommen.

Das wurde aus rechtlichen Gründen abgelehnt, weil die Untersuchungen nach dem derzeitigen Stand der Dinge gegen das Verfassungsrecht, also das Selbstbestimmungsrecht der Eltern, verstoßen würden.

Was noch könnte die Kinder besser schützen. Pflichtkurse, wo Eltern das Abc der Erziehung lernen können?

Das wäre auch eine Möglichkeit. Aber das Wichtigste ist, dass alle Institutionen – also von den Kinderärzten über Erzieherinnen bis zu den Lehrern – aufmerksam sind und besser zusammenarbeiten.

Ist in Kreuzberg-Friedrichshain noch ein Ost-West-Unterschied bemerkbar?

Es gibt tatsächlich diesen Unterschied, den wir aber nicht gesichert erklären können. Der statistische Anteil der so- genannten Hilfen zur Erziehung ist in Friedrichshain jedenfalls signifikant höher. Vermutlich liegt das zum einen daran, dass der Anteil der Alleinerziehenden hier mit 68 Prozent fast doppelt so hoch ist wie in Kreuzberg.

Dafür leben in Kreuzberg sehr viele Familien nicht-deutscher Herkunft…

…was sicherlich auch seine Probleme mit sich bringt. Aber oft sind bei den Migranten die Familiensysteme noch stabiler. Da achten eben auch die Großmütter und Tanten eher auf das Wohl des kleinen Kindes.

Das Gespräch führte Katja Füchsel

Thomas Harkenthal ist Diplom-Sozialpädagoge. Der 57-Jährige leitet seit sechs Jahren das Jugendamt von Friedrichshain-Kreuzberg.

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