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Willkommen in Westend. Hinten die RBB-Turm, vorn die Erschöpfung.

© Thilo Rückeis

Zu Besuch am ZOB: Wo Berlin echt abgefahren ist

Die Haltestelle ist voll, der „Hauskaffee“ kostet einen Euro, mittendrin reißt ein Busfahrer seine Witze. Hier ist Berlin echt abgefahren, am Zentralen Omnibusbahnhof in Westend, dem größten Busbahnhof Berlins. Ein Besuch bei Menschen, die auf gepackten Koffern sitzen.

Mal angenommen, das Sprichwort würde stimmen und Zeit wäre tatsächlich Geld: Dieser Ort hätte keine Chance. Aber es stimmt eh nicht. Geld ist Geld und Zeit ist Zeit. Und wer von dem einen nicht genug hat, hat vielleicht vom anderen im Überfluss. Dann ist dieser Ort gar nicht schlecht.

Der Zentrale Omnibusbahnhof (ZOB) an der Messe in Westend: ein Boomort. Seitdem der Markt für Fernbusse liberalisiert wurde, läuft das Geschäft. Vor drei Jahren hielten hier jährlich 65 000 Busse. In diesem Jahr sollen es am Ende 150 000 sein, sagt die Betreibergesellschaft IOB. Kein Wunder: Wenn ein Bahnticket von Berlin nach Hamburg regulär rund 60 Euro kostet, fährt der Bus die Strecke für etwa 15 Euro. Dafür ist er zwar etwa doppelt so lange unterwegs, aber auch unschlagbar günstig. Reicht das schon als Argument?

Es scheint so, wegen der Schönheit der Anlage kommen wohl nur die wenigsten an den ZOB. Baustil: 60er Jahre. Beton, überdachte Warteflächen, festgeschraubte Sitze in dem Raum, den sie hier „Wartehalle“ nennen. Daneben ein offener Kiosk, der „Hauskaffee“ für 1 Euro – günstiger als beim Imbiss auf der anderen Seite. Kampfpreise also, die Leute stehen Schlange, erstaunlicherweise ist der Kaffee dann vergriffen, so oft, dass sich Zweifel breit machen. Phantom Hauskaffee? Da grinst die Verkäuferin – „frisch gemahlen schmeckt eh besser“.

Durchblick. Deutsche Gründlichkeit auf der Anzeigetafel: Fern- und Nahverkehr auf einen Blick (oder mehr).
Durchblick. Deutsche Gründlichkeit auf der Anzeigetafel: Fern- und Nahverkehr auf einen Blick (oder mehr).

© Thilo Rückeis

Mit der steigenden Nachfrage kam die Kritik. Zu klein, zu alt, zu kaputt sei der ZOB. Eine größere Fläche wird es auch künftig nicht geben, sagt die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung. Dafür soll auf dem Gelände umgebaut und renoviert werden, 3,7 Millionen Euro stehen dafür in diesem und nächstem Jahr bereit. „Instandsetzungsbedarf“ sieht der Senat auch bei den Toiletten, betrieben durch die Wall AG. Die wiederum schätzt „den baulichen Zustand als gut ein“ und plant derzeit keine Sanierungen. Also auch hier: 60er-Jahre-Charme. Ein paar Treppenstufen nach unten, dem Geruch nach. Dann – hinter Gittern – der Blick in hochgekachelte, annähernd fensterlose Räume. Sieht ein bisschen aus wie der Löwenkäfig im Zoo. Riecht auch so.

Also alles schlimm am ZOB? Wie schmuddelig ist er denn wirklich? Mal einen Busfahrer fragen, die müssten die Vergleichswerte haben. Ergebnis: „Berlin hat einen der besseren ZOBs“, sagt Coskun Arikan, der es wissen sollte. 36 Jahre alt, umgeschult vom Trucker zum Busfahrer. Die Maßstäbe seien halt nicht so hoch, jahrelang interessierte sich kaum jemand für den Ort, jetzt zieht er an, strömen die Leute hierher. Aber halt auch in andere Städte, denn wer in Berlin einsteigt, muss irgendwo auch wieder aussteigen. Tut er das in Frankfurt am Main, dann, so Arikan, steht er auf einem Parkplatz neben dem Bahnhof, keine Überdachung, keine Hinweisschilder, großes Chaos. Und halt auch keine richtigen Haltestellen. Das kann in Berlin nicht passieren, „sehr geordnet“ laufe das hier ab.

Und die Passagiere? Nette Leute, findet der Busfahrer. Und gegen miese Stimmung ist er ja da, erzählt ein paar Witze. Busfahrerwitze, Lektion eins: „Der Witz ist immer an ein bestimmtes Ziel gekoppelt“, sagt Arikan. Dass die Toilette ab Schuhgröße 43 aufwärts nur rückwärts zu betreten sei, erklärt er dann vor der Abfahrt. Da wissen die Leute gleich, dass es viel zu eng ist und – hier der Trick – finden das sogar noch lustig.

Der Bus aus London hat fünf Stunden Verspätung

Nur nicht drängeln. Gleich geht's los vom ZOB.
Nur nicht drängeln. Gleich geht's los vom ZOB.

© Thilo Rückeis

Es ist ja fast eine Art Schicksalsgemeinschaft, man steigt ein und muss gefühlte Ewigkeiten miteinander auskommen, manchmal sogar noch länger. Für Geschäftsreisende dürfte das nichts sein. Für Touristen, Studenten, Kegelstammtische und Rentner schon eher. An einem Mittag unter der Woche: Fünf Stunden Verspätung hat der Bus aus London, steht an der Informationstafel. Zusätzlich zur Fahrtzeit von rund 17 Stunden. Wie oft wäre ein Flugzeug in dieser Zeit die Strecke hin und zurück geflogen? Falsche Frage. Entscheidend ist, dass die Karte für den Bus regulär nur etwa 90 Euro kostet. Es geht also um Geld, auch wenn in Unternehmerkreisen mitunter vor einem ruinösen Verdrängungswettbewerb gewarnt wird.

Die Reiseziele sind dabei durchaus ein Versprechen: Barcelona, Neapel, Split – nicht die schlechtesten Städte. Aber ein harter Weg dahin. Auch nach Bukarest, 30 Stunden für 100 Euro mit Zwischenhalt praktisch überall. Kurz vor Abfahrt: die Gepäckfächer rappelvoll, nur vor der hinteren Achse bleibt ein Fach leer. Da kommt der Ersatzfahrer rein, Schlafplatz in einem fensterlosen Verschlag, vielleicht einen halben Meter über dem Asphalt.

Freie Auswahl. Zu welcher Riviera mag's da gehen?
Freie Auswahl. Zu welcher Riviera mag's da gehen?

© Thilo Rückeis

Kurz vor Abfahrt kommt ein junger Mann angelaufen, setzt sich auf die Bank vor den Bus. Nach Bukarest will er nicht, „nur nach Hause“. Nach Hause ist Hannover und eigentlich wollte er Zug fahren. Wurde aber nix draus. Ausgeraubt habe man ihn, sagt er, der 21-jährige Dachdecker, durchaus kräftig. Vor ein paar Tagen auf der Kurfürstenstraße. Zusammen mit einem Kumpel gegen neun Angreifer: keine Chance. Handy weg, Geld weg, Kreditkarte weg. Dazu ein Schlag an die Schläfe, mit Gehirnerschütterung ins Krankenhaus eingeliefert. 20 Euro habe man ihm im Krankenhaus gegeben, damit sind keine großen Sprünge möglich. Aber einer dann doch: Mit dem Bus nach Hannover, 15 Euro, bleiben fünf zum Verjuckeln. Was tun? Entweder fünf Hauskaffee oder ein paar Flaschen Bier. Natürlich Bier.

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