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Rückzugsraum, Bildungseinrichtung, Freizeitzentrum. Berlins Bibliotheken haben viele Funktionen, ihre Zahl aber sinkt seit Jahren kontinuierlich.

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Wohin zum Lernen?: Stadtteilbüchereien - für Zuwandererkinder lebenswichtig

Viele kleine Bibliotheken machen dicht. Für Jugendliche aus Migrantenfamilien ein großes Problem, meint unsere Autorin, denn hier treffen sie sich oft um zu lernen und sich auszutauschen. Ein Erfahrungsbericht aus Berlin-Kreuzberg.

Stadtteilbibliotheken sind nicht nur Orte zum Bücherleihen. Sie sind Nachhilfezentren und besonders für Mädchen aus arabischen oder türkischen Familien wichtige Rückzugsmöglichkeiten und Treffpunkte. Diese sozialen Funktionen sind mindestens genauso wichtig wie der Zugang zu Büchern, CDs und DVDs.

Auch deshalb ist es in der Bücherei in der Kreuzberger Adalbertstraße jeden Nachmittag proppevoll. Hätte die Bücherei fünf statt drei Etagen, auch sie wären sicherlich voll. Denn viele Jugendliche aus Einwandererfamilien haben viele Geschwister und wohnen mit ihren Familien in kleinen Wohnungen. Da gibt es nicht das eigene Zimmer, auch nicht den eigenen Schreibtisch, um in Ruhe Hausaufgaben zu machen oder sich aufs Referat vorzubereiten. Der Familiencomputer ist oft kaputt und muss mit sechs, sieben oder acht Geschwistern geteilt werden. Die Büchereien sind für die Jugendlichen aus diesen Familien oft die einzigen Orte, um in Ruhe zu arbeiten.

Zu Hause, mit acht Brüdern, ist kein Platz zum Lernen

So geht es auch Shadia (Name geändert), dem dreizehnjährigen Mädchen, mit dem ich mich einmal in der Woche zum Lernen treffe. Sie ist ehrgeizig und wissbegierig, braucht aber möglichst einen Tisch ganz in der Ecke, um sich konzentrieren zu können. Gäbe es die Bücherei nicht, wir wüssten nicht, wohin wir gehen sollten. Nach 16 Uhr ist die Schule geschlossen, bei ihr zu Hause mit acht Brüdern in einer Drei-Zimmer-Wohnung ist kein Platz, mein Zuhause zu weit entfernt, da würden wir zu viel Zeit in der U-Bahn verlieren.

In der Bücherei in der Adalbertstraße gibt es außerdem jeden Nachmittag nette Studenten und andere Ehrenamtliche, die uns helfen, wenn wir mit einem Matheproblem nicht weiter wissen, die uns den französischen Satzbau erklären können und Tipps geben, wie man einen Aufsatz aufbaut. Mittlerweile geht Shadia manchmal auch ohne mich in die Bücherei und fragt sich durch. Das ist für sie ein wichtiger Schritt in die Selbständigkeit. In den Regalen stehen außerdem viele Schulbücher mit Beispielaufgaben, auch darauf greifen wir häufig zurück.

Die Bücherei als wichtiger Treffpunkt

Die in Politikerreden oft beschworene Bildungsoffensive der Migranten ist nicht möglich ohne diese Stadtteilbüchereien. Hier sitzen sie, die fleißigen Mädchen und jungen Frauen und büffeln für den Mittleren Schulabschluss und das Abitur. In die Bücherei zu gehen, dagegen kann auch der strengste Vater nichts haben, anders als gegen ein Treffen im Café. Und so sind die Tische zwischen den Regalen und auf den Fluren auch wichtige Treffpunkte mit Freundinnen. Da wird getuschelt und getratscht, von Jungen geschwärmt und gekichert.

Die Stadtteilbücherei ist ein erweitertes Wohnzimmer um die Ecke, und genau das brauchen Jugendliche wie Shadia. Mit ihren 13 Jahren würde sie sich nicht in die Staatsbibliothek trauen, die wissenschaftlich-abgehobene Atmosphäre schreckt sie ab. Die Staatsbibliothek wäre auch zu weit entfernt. Leider macht die Bücherei in der Adalbertstraße freitags um 17 Uhr zu und samstags gar nicht erst auf. Aber gerade der Samstag ist ein wichtiger Tag zum Lernen. Shadia und ich gehen dann oft in die Amerika-Gedenkbibliothek am Blücherplatz, drei U-Bahn-Stationen entfernt. Wer einen Platz bekommen will, muss bis spätestens 12 Uhr da sein. Denn auch hier drängen sich viel zu viele Jugendliche um wenige Tische. Und wohin am Sonntag? Im Sommer gibt’s Parks, im Winter ist der Tag fürs Lernen verloren.

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