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© Uwe Steinert

Wohnen im Alter: In Berlin entstehen neue Lebensformen

Die Zahl der älteren Bürger in Berlin wächst. Schon in 20 Jahren wird jeder vierte Berliner älter als 65 Jahre sein. Der Senat reagiert und fördert Ideen wie das Mehrgenerationenhaus.

In einem Seniorenheim wohnen? „Bloß nicht!“, ruft Dorothee Schmidt. „Da würde ich ja nur Alte und Gebrechliche sehen, sobald ich die Tür aufmache.“ Dass sie das auf keinen Fall will, weiß die 67-Jährige schon lange. Seit zwei Jahren wohnt sie deshalb mit ihrem Mann Wolfgang im genossenschaftlichen Mehrgenerationenhaus „Alte Schule“ in Karlshorst. Das Ehepaar hat sich damit einen Wunsch erfüllt, den viele ältere Menschen in Berlin hegen: nicht alleine alt zu werden und viel Kontakt zu jungen Menschen zu haben.

Die Gemeinschaft, die vor vier Jahren beschlossen hat, das alte Schulhaus zu sanieren, erhielt im Mai dieses Jahres den Titel „Leuchtturm-Projekt“. Der wird verliehen im Rahmen des Wettbewerbs „Generationendialog in der Praxis – Bürger initiieren Nachhaltigkeit“ von der Bundesregierung und dem „Rat für Nachhaltigkeit“.

Dialog zwischen alten und jungen Menschen, das wird immer wichtiger. In Berlin steigt der Anteil alter Menschen. Schon 2030 wird ein Viertel der Berliner über 65 Jahre alt sein, in 20 Jahren leben etwa 260 000 über 80-Jährige in der Stadt. Während Unternehmen seit Jahren auf die neue Zielgruppe eingehen – es gibt Umzugshilfen für Senioren, Computerkurse und Rentner-Yoga – hat die Politik etwas länger gebraucht. Jetzt hat der Senat mit seinem „Demografie-Konzept“ nachgezogen. Wesentlicher Bestandteil sind neue Wohnformen, gefördert durch günstige Kredite und Grundstücke. Besonders Konzepte, in denen Alt und Jung zusammenleben, sind gefragt: „Je älter die Leute werden, umso wichtiger sind ihnen soziale Nachbarschaften“, sagt Constanze Cremer von der „Netzwerkagentur Generationenwohnen“. 400 000 Euro erhält die Agentur, die Beratung für generationsübergreifende Projekte macht, vom Senat. Was sie anstrebt, sind Modelle wie das Klimasolarhaus im Samariterviertel, das Sonnenhaus in Niederschöneweide oder eben die „Alte Schule“ in Karlshorst.

Für die Politik sieht der Idealfall so aus: Die alten Menschen erhalten Hilfe beim Einkaufen, im Gegenzug unterstützen sie jüngere Mitbewohner bei den Hausaufgaben. Doch so reibungslos funktioniert es nicht immer. Wenn, wie in Karlshorst, 60 Menschen in 22 Wohnungen unter einem großen Dach leben, gibt es auch Streit. „Natürlich hat es gedauert, bis wir zusammengewachsen sind“, gibt Hans-Jörg Prüfer, 67, zu. Mit Beginn seines Ruhestands vor eineinhalb Jahren zog er in das Haus ein, in eine Gemeinschaft mit Bewohnern im Alter zwischen einem halben und 83 Jahren. Er wusste, da konnte nicht alles glattgehen. Doch nachdem erste Unstimmigkeiten wie etwa eine Regelung der Mittagsruhe geklärt waren, schafften es die Bewohner in den zweieinhalb Jahren, einiges gemeinsam zu stemmen: Hinter ihrem rot-gelben Ziegelgebäude haben sie ein Gemeinschaftshaus errichtet, einen Sandkasten für die Kleinen gibt es auch schon, und für die meisten Beete im Garten vor und hinter dem Haus hat sich schon ein Pate gefunden, der sie bepflanzt. Regelmäßig finden Spielenachmittage statt und vier der Bewohner teilen sich sogar ein Auto. Als Hans-Jörg Prüfer seine eigenen Fotografien in Kreuzberg ausstellte, kam rund ein Drittel seiner „Mitbewohner“ zur Vernissage.

Genau darum geht es den Leuten im Mehrgenerationenhaus. Interesse für die Mitmenschen, gegenseitige Unterstützung, auf die man nicht angewiesen ist, die man aber gerne gibt und nimmt. „Ich bin hier nicht eingezogen, weil ich alleine nicht klarkomme, sondern weil ich ein Geber bin“, sagt Hans-Jörg Prüfer. Er liest regelmäßig einem Jungen aus dem angeschlossenen Kinderhaus Geschichten vor und macht mit ihm Ausflüge. Prüfer selbst hat dagegen von einem anderen Mitbewohner Hilfe bei der Einrichtung seines Zimmers erhalten. „Der hatte einfach ein besseres Auge dafür und hat mir sogar passenden Wandschmuck als Dauerleihgabe zur Verfügung gestellt“, erzählt er und freut sich. Und wenn er mal Gesprächsbedarf hat, klingelt er beim Ehepaar Schmidt. Wolfgang Schmidt, der ehemalige Architekt, hat den Bau des Gemeinschaftsgebäudes koordiniert. „So hat hier jeder seine Aufgabe“, sagt er, und nickt seiner Frau zufrieden zu.

Hans-Jörg Prüfer hat sogar noch hinzugelernt – und zwar in Sachen Toleranz. „Früher hätte ich sicher etwas gesagt, wenn jemand nicht häufig genug geholfen hat.“ Heute wisse er, dass die anderen bestimmt ihre Gründe hätten, wenn sie sich mal weniger beteiligen. Wahrscheinlich ist dieses Voneinanderlernen, Sich-gegenseitig-Unterstützen und Sichfreiwillig-für-andere-Einsetzen genau die Art von Miteinander, die sich Ingeborg Junge-Reyer, Stadtentwicklungssenatorin (SPD), vorstellt, wenn sie eine Stärkung des bürgerschaftlichen Engagements fordert. Denn die ist nicht jedermanns Sache. Dorothee Schmidt hat durchaus Freunde, die sich nicht vorstellen können, wie sie zu wohnen. Für sie selbst und ihren Ehemann Wolfgang gibt es keine Alternative. Die Wohnungen sind alle behindertengerecht. Ob sie hier im Haus alt wird? „Hundert pro!“

Lea Hampel

Lea Hampel

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