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KOOPERATIONSPARTNER: Zuckerkrankheit ist (k)ein süßes Leben

Amputationen oder Erblindung - Diabetes-Patienten drohen gefährliche Folgekrankheiten. Doch oft spüren die Betroffenen die Schäden an ihrem Körper erst, wenn es zu spät ist. In Diabetes-Rehakliniken erfahren sie, wie sie sich davor schützen können, doch das ist im Alltag oft eine große Herausforderung

Cornflakes, Schokolade, Rindsrouladen, Fertigpizza, Fruchtsäfte – Berge von Nahrungsmitteln. Und mitten in diesem vermeintlichen Schlaraffenland sitzt Patrizia Martens (Name geändert) und lauscht den Worten von Ernährungsberaterin Jaqueline Marx. Schachteln und Flaschen sind leer, denn jetzt kommt es mehr auf ihr Äußeres an: Wie viel wovon ist drin im Essen? Die Antwort darauf ist für Martens und die anderen Diabetespatienten im MediClin Reha-Zentrum Spreewald überlebenswichtig.

Aber die Nährwerttabellen auf den Packungen sind oft nur mit der Lupe zu entziffern. Also braucht es Erfahrung beim Einkauf. Und bis die vorhanden ist, muss jedes Produkt in die Hand genommen und der Nährwert errechnet werden. Die Kohlenhydrate in der Tabelle sind dabei entscheidend. Teilt man ihren Wert durch zwölf, erhält man die Broteinheiten. BE, das ist die harte Währung der Diabetiker. Elf Broteinheiten darf Patrizia Martens am Tag zu sich nehmen, etwas weniger als eine Tüte Gummibärchen. „Diätprodukte helfen da nicht weiter“, sagt Ernährungsberaterin Marx. „Die sind nur teurer als normale Nahrungsmittel und enthalten oft nur unwesentlich weniger Kohlenhydrate.“ Das heißt: Normalen Schokoladenaufstrich aufs Brot, „aber eben in Maßen“.

Patricia Martens ist Diabetikerin des Typs 2. Körperzellen benötigen Insulin als Schlüssel, um den Zucker aufnehmen und verarbeiten zu können. Bei Typ-2-Diabetikern klemmt dieser Schlüssel. Die Bauchspeicheldrüse steuert in den ersten Jahren gegen, indem sie viel mehr Insulin produziert als bei Gesunden. Irgendwann ist sie mit der erhöhten Produktion aber überfordert und fährt sie zurück, Insulinmangel ist die Folge. Er kann zunächst meist mit Tabletten ausgeglichen werden, in späteren Phasen der Krankheit müssen sich viele Patienten künstliches Insulin spritzen. Außerdem kann eine Insulinresistenz entstehen. Früher wurde Typ 2 als Altersdiabetes bezeichnet. Warum man heute nicht mehr davon spricht, wird auch bei Patrizia Martens deutlich: Die Betroffenen werden immer jünger. Als der Diabetes bei ihr diagnostiziert wurde, war sie 34 Jahre alt.

Beim Kontrollieren des Passagiergepäcks kippte die Luftsicherheitsassistentin einfach um. Als Martens wieder zu sich kam, bat sie den gerufenen Sanitäter, ihren Blutzucker zu messen. „Auf der väterlichen Seite haben alle meine Verwandten Zucker.“ Als der Sanitäter wenige Sekunden später das Ergebnis ihres Blutzuckertests in der Hand hielt, glaubte er es kaum: Martens Blutzuckerwert lag bei 368 mg/dl. Normal müsste er bei 100 liegen.

Im Krankenhaus sagte man ihr, dass sie nie wieder ohne künstliches Insulin auskommen würde. Ein rosafarbener „Pen“, ein Stift mit einer Insulinampulle in der Mitte und einer Kanüle an der Spitze, mit dem sich die richtige Dosis injizieren lässt, ist seitdem ihr ständiger Begleiter. Auch jetzt in der Rehaklinik, wo sie die Grundlagen des neuen Lebens lernt.

Im Konferenzraum im Erdgeschoss der Klinik sitzt Wolfram Kamke, Chefarzt der Inneren Medizin, mit einem Dutzend neu angekommener Patienten in einem abgedunkelten Raum. An die Wand sind Zahlen und Bilder geworfen. Es ist eine Art Begrüßungsvortrag am Anfang ihrer dreiwöchigen stationären Reha. Kamke umreißt in freundlichem Ton Eckpunkte des Diabetes, an dessen Folgeerkrankungen jährlich weltweit immer noch rund 3,2 Millionen Menschen sterben. In Deutschland sind geschätzte acht Millionen daran erkrankt.

Die große Gefahr bei einem nicht erkannten oder schlecht eingestellten Diabetes sind die Folgeerkrankungen: Kamke spricht von Herzinfarkten, der häufigsten Begleiterscheinung, von Nierenschäden, Erblindung und offenen Wunden. „Es gibt Betroffene, die einen Nagel im Fuß stecken hatten und ihn nicht bemerkten, weil der Zucker über die Jahre die Nervenleitungen zerstört hat.“ Weil auch die Wundheilung bei Diabetikern viel schlechter ist, seien Amputationen keine Seltenheit.

„Um solche Schäden zu verhindern, sind regelmäßige Kontrollen beim Arzt unerlässlich“, schließt der Arzt. Ein Herr mit einem dicken grauen Schnauzbart beklagt, dass es unmöglich sei, auf dem Land überhaupt einen Augenarzttermin zu bekommen. Andere im Raum pflichten ihm brummend bei. Kamke wendet freundlich ein, dass er das Problem kenne: Aber wer einmal dort gewesen sei, der bekomme sicherlich einen jährlichen Kontrolltermin. „Sie müssen es nur wirklich wollen!“

Dieser Wille wird in den nächsten Wochen in vielerlei Hinsicht gefordert sein. Fast immer geht der Typ-2-Diabetes mit Übergewicht einher. Die meisten Anwesenden sind Männer Anfang 60 mit Bäuchen von teils beachtlichem Umfang. Einige starren auf den Tisch, als Kamke über die Nährwerte von Keksen und Bratwurst spricht.

Dabei könnte der Satz, der jetzt an die Wand projiziert ist, Mut machen: „Keines der gängigen Diätkonzepte bringt langfristigen Erfolg.“ Es gehe um die langfristige Änderung von Lebens- und Ernährungsgewohnheiten, sagt Kamke.

Deshalb wird bei der Diabetes-Reha im Spreewald an vielen Fronten gleichzeitig gearbeitet: Die Insulintherapie wird verbessert, zugleich steht Gewichtsabnahme durch Ernährungsumstellung und Sport auf dem Programm. Und schließlich die Prävention von Folgeerkrankungen: Spezielle Schuhe oder Einlagen werden angepasst, um Verletzungen zu verhindern oder deren Folgen auszugleichen. Herzinfarktpatienten werden in der angeschlossenen Kardiologie medizinisch versorgt.

Eines der wichtigen Instrumente, um den Zucker in den Griff zu bekommen, ist die Bewegung. Deshalb ist sie fester Bestandteil der Diabetes-Reha im Spreewald. Während viele Patienten erst an Sport abseits der Sportschau herangeführt werden müssen, ist er Thomas Redlich deutlich anzusehen. Der große schlanke Mann im Trainingsanzug spielte jahrelang Tischtennis im Verein, „Leistungssport“, sagt er. Seit 1982 ist er Tischtennistrainer.

Als bei ihm Diabetes festgestellt wurde, baute Redlich Messehallen und sanierte Schornsteine. Dazu ist von Zeit zu Zeit eine sogenannte Höhentauglichkeitsuntersuchung nötig, bei der auch einmal der Blutzucker getestet wurde. Die typischen Anzeichen für Diabetes – übermäßiger Durst und starkes Schwitzen – seien ihm in dem Beruf nicht aufgefallen. „Schwitzen und Durst gehörten zum Job.“ Die Diagnose lautete Diabetes Typ 1. Bei dieser Form hat die Bauchspeicheldrüse die Produktion von Insulin ganz eingestellt, ohne Spritzen geht es für die Betroffenen nicht. Typ 1 ist meist angeboren. Die Zahl der Betroffenen wird auf nur 200000 in Deutschland geschätzt, auch in der Rehaklinik im Spreewald sind sie seltener. Seit 1992 lebt Redlich mit der Insulinspritze. „Diabetes ist deshalb gemein, weil er ein schleichender Prozess ist“, sagt er. „Und je länger man ihn hat, desto nachlässiger wird man.“ Deshalb ist er hier.

Die Sporttherapeutin hat für Redlich und vier weitere Patienten einen Parcours aufgebaut. Die Regel ist: Bewegung senkt den Blutzucker, wenn auch bei jedem in unterschiedlichem Maße. Wer sich zu sehr anstrengt, bei dem kann der Zuckerspiegel sogar wieder ansteigen. Es geht also darum, das richtige Maß zu finden. Helfen dabei sollen Blutzucker und Pulsmessungen vor, während und nach dem Sport.

„Wir geben hier einen Anschub und zeigen, wie das Leben mit dem Diabetes gut funktionieren kann“, sagt Chefarzt Kamke. Und ein großer Teil der Patienten sei auch motiviert, diese Ratschläge auch zu Hause umzusetzen. Nur schätze er den Anteil derer, die es schafften, auf etwa ein Viertel. „Bei unserer hohen Zahl an Patienten ist das schon ein Erfolg.“

Ein Indikator, der anzeigt, ob es geklappt hat, ist der Langzeitblutzuckerwert HbA1c. Er bildet den Mittelwert der letzten acht Wochen ab. Bei Patrizia Martens ist er seit Beginn der Reha von elf auf neun gesunken. Bis zum Zielbereich zwischen 6 und 7 wird es noch ein langer Weg. Eine Woche hat Martens noch in der Reha-Klinik, dann geht es darum, das Gelernte im Alltag umzusetzen. Leicht wird das nicht, auch weil es keine festen Mittagspausenzeiten am Flughafen gibt. „Wenn ich mich gerade gespritzt habe, passiert es oft, dass ich spontan zu einem Einsatz muss.“

Klar habe sie manchmal große Lust, das Spritzbesteck einfach in die Ecke zu werfen, sagt Martens. Aber stattdessen hat sie sich vorgenommen, den Topf in die Hand zu nehmen und Reis für den nächsten Arbeitstag vorzukochen.

Zahlreiche Informationen rund um das Thema Diabetes finden Sie im Internet auf dem Tagesspiegel-Beratungsportal

www.gesundheitsberater-berlin.de

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