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Berlin: Zwischen Babysitter und Urknall-Theorie

Die sechsjährige Cara Nadler ist überdurchschnittlich intelligent – was die Schule ihr bietet, langweilt sie oft. Jetzt lernt sie gemeinsam mit anderen hoch begabten Kindern

„Langweilig“, sagt Cara und tippt mit dem Finger auf das Blatt mit den unzähligen Siebenen, die sie in der Schule malen musste. „Langweilig – langweilig – langweilig“, fährt die Sechsjährige in ungeduldigem Singsang fort, als sie weiterblättert zu den Einsen, den Fünfen und dann zu den Zweien.

Die sind in die Körper von Schwänen gezeichnet. Gleich eine ganze Schwanenfamilie ist auf das Arbeitsblatt gedruckt, weil nur Übung das Schreiben lehrt. Aber wenn Cara etwas Neues lernt, braucht sie die ganzen Wiederholungen nicht. Und die Zahlen konnte sie schon lange vor der ersten Klasse. Nicht nur schreiben, sondern auch zusammenzählen und subtrahieren. Cara gehört zu den acht Prozent der Bevölkerung mit einem Intelligenzquotienten (IQ) von über 120 und gilt damit als hoch intelligent. Bei weiteren zwei Prozent – den Hochbegabten – liegt der IQ , der die Fähigkeit zu logischem und abstrakten Denken beschreibt, sogar über 130. Durchschnitt ist ein IQ-Wert zwischen 90 und 110.

Dass ihre Tochter „irgendwie anders ist“, hat Diana Nadler schon früh bemerkt. Mit eineinhalb Jahren sprach Cara in ganzen Sätzen. Mit drei fragte sie beharrlich nach der Bedeutung der Buchstaben, mit vier war ihr Lieblingsspiel „Das verrückte Labyrinth“, dass laut Packung für Kinder von acht bis 99 geeignet ist. „Sie war immer weiter als die anderen Kinder, die ich kannte“, sagt die allein erziehende Hausfrau. Mit fünf wollte Cara mit dem Babysitter lieber rechnen als spielen. Doch das war nicht alles. Im Kindergarten verbesserte Cara ständig ihre Spielkameraden, und oft konnten die Erzieher das quirlige Mädchen mit den blonden Zöpfen kaum beruhigen. Schnell galt Cara als verzogen. „Ein typisches Alleinerziehenden-Kind, hieß es bei den Erziehern: muss immer im Mittelpunkt stehen. Oder sie sagten, Cara sei hyperaktiv“, erzählt Diana Nadler. Dabei war das Mädchen schlichtweg unterfordert.

„Überdurchschnittlich intelligente Kinder sind ausgehungert nach Information“, sagt Jutta Billhardt vom Verein für Hochbegabtenförderung. Wird dieser Hunger gestillt, können sie Großes leisten. Wenn sie aber ständig unterfordert sind, hat das Folgen. „Die einen zappeln dauernd rum. Andere verweigern in der Schule jede Teilnahme am Unterricht.“ Dann sacken die Noten ab. „So etwas verbinden die meisten Eltern doch nicht mit Hochbegabung“, sagt Billhardt.

Cara hatte Glück – vor eineinhalb Jahren hörte ihre Mutter von einer Freundin zum ersten Mal, wie sich hoch begabte Kinder typischerweise verhalten. Da ließ Diana Nadler ihre Tochter einen Intelligenztest bei einem Psychologen machen. Der brachte Klarheit.

Seitdem fällt es Diana Nadler leichter, mit ihrer Tochter richtig umzugehen. Sie versucht, Caras Hochbegabung gerecht zu werden, so gut es geht. Letzten Sommer wurde Cara – noch bevor sie sechs wurde – eingeschult. Den Mathematikunterricht kann sie inzwischen bei den Zweitklässlern mitmachen. „Und da ist sie bei weitem nicht die beste“, sagt Diana Nadler und klingt fast erleichtert. In den anderen Fächern langweilt sich Cara aber immer noch häufig. „Sie braucht eben nicht so lang“, sagt Diana Nadler. „Wenn sie nach der vierten Klasse in eine Schnellläuferklasse könnte, wäre das ideal.“

Cara fordert auch an diesem Nachmittag ständig Aufmerksamkeit, will immer beschäftigt werden. „Mama, warum haben Männer Bärte und Frauen nicht?“, „Was ist Testosteron?“, „Was schreibt die Frau da?“ – ohne Unterbrechung sprudeln Fragen aus dem Mädchen mit den blonden Zöpfen heraus. Das ist anstrengend für ihre Mutter. Doch auch Cara hat es oft schwer. Ein Kind, das vieles besser weiß, eckt häufig an – bei anderen Kindern und bei Erwachsenen.

Nur im Bio-Chemie-Kurs, den Cara jede Woche beim Verein für Hochbegabtenförderung in Friedrichshain besucht, fällt sie nicht besonders auf. Sechs Fünf- bis Siebenjährige werden hier jede Woche kind- und hochbegabtengerecht über Mensch und Natur unterrichtet, während nebenan die Älteren Japanisch lernen. An diesem Nachmittag wird – während die Beine auf mittlerer Stuhlhöhe in der Luft baumeln – erst mal über den Urknall und die Entstehung der Erde philosophiert. „Am Anfang gab’s nur einen Kontinent: Pangäa“, erklärt der siebenjährige Paul. Und dass aus dem dann irgendwann fünf Kontinente wurden. Dass man das heute noch auf der Landkarte an der Wand sieht, weiß auch der fünfjährige Ben, schließlich liest er, seit er drei ist, alles, was ihm in die Finger kommt. „Südamerika passt zum Beispiel genau an Afrika“, sagt er mit heller Stimme. Bezüglich der Frage, warum Pangäa auseinander brach, hat er allerdings seine eigene Theorie: „Weil da die riesige, grüne Erdbebenechse drüber getrampelt ist.“

Im Bio-Chemie-Kurs sitzt Cara zum ersten Mal still an diesem Tag. Sie malt ihr Bild vom Urknall und hört aufmerksam zu, was Lehrer Andreas Steege über Lava und schwarze Löcher erzählt. Doch kaum ist der Unterricht zu Ende, geht die Fragerei wieder los – diesmal allerdings will Cara nichts über Männerbärte und Hormone wissen „Gehen wir noch zu McDonald’s Hamburger essen?“, fragt sie stattdessen.

Anne Seith

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