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Berlin: Zwischen heiler Welt und ganz weit unten

Wo geht es rauf, wo runter in Berlin? Der neue Sozialatlas präsentiert die Gewinner und Verlierer unter den Kiezen. Ein Rundgang

Von Rainer W. During

und Annette Kögel

Berlins glücklichstes Dorf liegt im Süden von Spandau. Alt-Gatow, der historische Kern des Ortsteils zwischen Havel und Rieselfeldern. Nach der Erhebung des Senats findet man hier die beste Sozialstruktur Berlins. Bewertet wurden Kriterien wie Durchschnittseinkommen, Bildungsstand und Lebenserwartung, der Anteil von Arbeitslosen, Sozialhilfeempfängern und Nicht-EU-Bürgern. Wo sind die Gewinner-Gegenden der Stadt, wo geht es in Berlin bergab? Ein Rundgang.

Alt-Gatow: Von der einst vom britischen Stadtkommandanten und jetzt von Unternehmer Hartwig Piepenbrock genutzten Villa Lemm bis zur Kleinen Badewiese. Auf rund 800 Meter Länge befinden sich die evangelische Dorfkirche, die katholische St. Raphael-Kirche, Kindergärten, Landwirte, Restaurants, Freiwillige Feuerwehr, Geschäfte. Zum Ufer hinab erstrecken sich malerische Wohnanlagen. Dort, wo einst im „Haus Carow am See“ Varieté geboten wurde, stehen heute Terrassenhäuser. Hier können es sich die Leute noch leisten, sich alle ein bis zwei Wochen die Haare schneiden zu lassen, sagt Friseurmeister Wolfgang Loth. Und auch, Trinkgeld zu geben. Seit 26 Jahren hört er seinen Kunden zu und weiß, dass hier viel auf die Regierung geschimpft wird. Und doch „ist es hier dörflich, sittlich, freundlich, schön“.

Rita Dütsch klagt, über den Durchgangsverkehr. Seit dem Mauerfall stoppen die Autofahrer nicht mehr so oft, um im Dorf einzukehren. Auch die Stammgäste aus dem Kiez lassen sich seltener blicken, weil die Brieftasche nicht mehr so locker sitze. Nebenan, in der „Kajüte am See“, hat schon Prinzessin Anne gespeist, als sie die englischen Truppen in Spandau besuchte. An der Einmündung des Groß-Glienicker-Weges hat Beate Bathe ihr Domizil. Sie verkauft Gemüse von den Feldern ihres Mannes Walter, dem Erfinder der „Gatower Kugeln“, eine Art Kreuzung von Rettich und Radieschen. Ihre Stammkunden kommen sogar aus Wedding. Gatow soll noch idyllischer werden. Beate Bathe: „Wir bewerben uns als schönstes Dorf“.

Das war Marzahn mal, aber längst recken sich Plattenbauten gen Himmel, nieselt der Sprühregen auf Industriegebiete wie jene an der Marzahner Straße. 2002 stieg die Arbeitslosenquote hier um 8,7 Prozent, der Anteil der Sozialhilfeempfänger lag über sechs Prozent höher als vier Jahre zuvor: 298. und damit letzter Platz. „Ein Betonwerk ist kaputtgegangen, früher war auch ein Chemiehandel hier“, sagt Helmut Molks vom „Garni Hotel Molks“. Im Industriegebiet stünde viel leer, kein Wunder, meint der 64-Jährige: „Nach der Wende haben sie alles für einen Apfel und ein Ei verscherbelt. Die Westdeutschen haben ihre Firmen saniert und unsere hier totgemacht.“ Immerhin läuft sein „Cafégarten“-Restaurant weiter gut, dank der Gäste aus den benachbarten Wohnhäusern, die „hier bei uns alles feiern, von der Einweihung bis zum letzten Gruß“. Nebenan, beim vietnamesischen Gemüsehändler, heißt es, das Geld sitze nicht mehr so locker. Da sollen die Namen der Imbissbuden in der Straße wohl die Gemüter erhellen: „Zur Müllerin“, „Zur Boulettenschmiede“.

„Eck-Kneipe“ heißt die Pinte an der Waldemarstraße, Ecke Mariannenplatz im alten Kreuzberg SO 36. Herbert, 64, kühlt sein Mütchen mit einem Klaren. Der kostet bei Wirt Günaydin Mutlu einen Euro, aber viele holen sich jetzt die Pulle im Supermarkt und trinken zu Hause. „Der Euro, die teuren Medikamente, die Praxisgebühr, den Leuten geht es immer schlechter“, sagt Mutlu. „Die Arbeitslosigkeit, das ist es“, sagt Herbert. Und Vera, 84-jährige Alt-Kreuzbergerin im Rollstuhl, sagt: „Das ist Abzocke, was die Politiker da mit uns machen.“ 8000 Ausländer, 4067 Sozialhilfeempfänger und 3648 Arbeitslose: Dass die Gegend um den Mariannenplatz im Sozialatlas schlechte Noten erhält, verwundert nicht. Doch es geht weiter abwärts. Das bestätigt der Briefzusteller. Der Stapel – lauter Mahnungen und Briefe vom Sozialamt, vom Arbeitsamt, vom Polizeipräsidenten. „Fight Capitalism“, ist an einer Wand zu lesen.

Der hält in Mitte Einzug. Auch rund um den Karlplatz nahe der Charité, einer der Berliner Aufsteiger-Ecken. Arbeitslosenquote und Anteil der Sozialhilfeempfänger sanken jeweils um über vier Prozent. Das zieht junge, berufstätige Mieter an wie die 25-jährige Marketing-Koordinatorin Vivien Steinke, der hier „auch im Vergleich zu London alles sehr gepflegt“ vorkommt. „Wunderbar ruhig und trotzdem zentral“ findet eine 54-Jährige die Gegend, die gerade von Hannover nach Mitte gezogen ist. „Die vielen sanierten Häuser, da folgt ein zahlungskräftiges Publikum.“ Wie die Manager, die ihre Hemden in der neu eröffneten Reinigung an der Luisenstraße 46 abgeben. „Das Geschäft läuft bestens“, freut sich eine Angestellte. Das zeigt auch der Zettel an der Tür: „Wir stellen ein: Textilreiniger, Bügler, Änderungsschneider“.

Rainer W. During, Annette Kögel

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