zum Hauptinhalt
Die Talkshow von Anne Will ist einer der erfolgreichsten im TV. Ende 2023 wird sie aber eingestellt.

© imago images/J√ºrgen Heinrich

50 Jahre Talkshow in Deutschland: Welche Zukunft hat das Format?

Mit „Je später der Abend“ startete im März 1973 die erste Talkshow im deutschen Fernsehen. Doch ist das Genre noch zeitgemäß? Drei Experten geben eine Einschätzung.

Talkshows im Fernsehen: Mal sind sie trashig, mal politisch relevant, mal einfach unterhaltsam. Doch welche Zukunft hat das Gesprächsformat?

In unserem Format „3 auf 1“ analysieren immer drei Experten aus verschiedenen Richtungen die Lage. (Alle Folgen „3 auf 1“ können Sie hier nachlesen)


Mehr Fantasie tut not

Talkshows im Fernsehen sind die postmodernen Erben der privaten Salons. Es gab sie von Ende des 17. bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein. Damals waren das exklusive Treffen der bürgerlichen Gesellschaft, man debattierte, genoss die Gegenwart von Stars aus Wissenschaft, Kunst und Politik, lauschte Hausmusik und Lesungen aus Manuskripten. Talkshows haben dieses Eventformat quasi vergesellschaftet. Zumindest als Publikum kann teilhaben, wer will.

Nicht erst in der Pandemie und seit Russlands Überfall auf die Ukraine zeigt sich, wie groß der Bedarf ist, viele Stimmen im Dialog zu hören, betroffene, kundige, kontroverse.

In die großen, politischen Shows laden Salondamen wie Anne Will, Sandra Maischberger oder Maybrit Illner ein, und daneben ein Mann, der wackere Late-Night-Talker Markus Lanz. Mehr Fantasie für die Gästelisten tut wohl not.

Doch oft entsteht ein Konzert des Pluralismus. Autoritäre Systeme kennen gar keine freie Rede und Meinung. Bei der Transformation zur Demokratie sind Talkshows, die Debatten zulassen, eines der ersten und sichersten Anzeichen für gelingenden Wandel.


Urvertrauen ins Format

Die Talkshows im Fernsehen sind der Tsunami des Mediums. Werktäglich, sonntäglich brechen die Gesprächssendungen in die Programme ein.

Für das Fernsehen, das 24/7 sein Publikum bedienen will, sind sie ein großer, vielleicht der größte Segen. Kein TV-Format, das kostengünstiger zu produzieren ist, weil der Aufwand eben so gering ist: Studio, Moderator(-in), Gäste, zwei, drei Kameras. Quasi ein Perpetuum Mobile, da lassen sich locker drei Ausgaben am Tag produzieren.

Und gilt nicht für das Publikum, dass sich jeder und jede längst sein Lieblingsangebot herausgesucht hat? „Anne Will“ oder „Maybrit Illner“, „3 nach 9“ oder der „Kölner Treff“, sie alle können auf ein Stammpublikum hoffen. Da existiert ein Urvertrauen ins Format und in die Moderation.

Ein großer Teil des Fernsehpublikums fühlt sich bestens unterhalten, wenn andere, interessante, neugierig machende Mitmenschen vor Fernsehkameras lachen, sich amüsieren, sich offenbaren, debattieren, streiten. Vor der Talkshow stirbt das Fernsehen.


Bitte progressiver, diverser und inklusiver!

Im Grunde genommen sind Talkshows nur das medial inszenierte und getreue Abbild unserer Gesellschaft. Sie zeigen nur in konstruierter Form, wie wir in Deutschland an Themen herantreten, wie wir streiten und wer zu welchen Themen die Deutungshoheit besitzt.

Meist sind es weiße, ältere, gutverdienende, studierte Menschen, die in diesen Runden sitzen. Es ist wie ein wöchentlich auserkorener Debattierclub, die feine Gesellschaft der Demokratie. Es mag demokratisch wirken, wenn fünf Menschen sich im Halbkreis gegenübersitzen und endlich mal Tacheles reden.

Dann sitzen vier verständnisvoll nickende wichtig aussehende Menschen mit viel Geld und eine armutsbetroffene Person versucht in Windeseile über die Realität aufzuklären, während der Talkshow-Host allzeit bereit ist, um ins Wort zu fallen und „tiefer zu graben“, also einseitige Wahrnehmungen mit Fragewörtern zu schmücken und als gegebene Annahme nach außen hin zu vermitteln. 

In Talkshows sprechen alle gleich, ähneln sich in ihrem Blick auf die Welt. Dennoch ist man selbstbewusst genug, um mit ewig gleichen Formaten und Gästeprofilen konstruktive Diskussionen zu Themen aller Welt koordinieren zu wollen. Talkshows können sinnvoll und gut sein, wenn sie nicht vom Kontroversen ausgehend Kompromisse erzielen wollen.

Es darf nicht immer eine Kompromissbereitschaft geben, Prinzipien sind auch etwas Feines. Es darf aber selbstverständlich hitzig diskutiert werden, nur müssen sich Shows wie diese dabei progressiven Formaten zuwenden, Bildungsfernsehen inklusiver denken und Diversität nicht als Side-Project sehen, sondern als eine reale und ganz unpathetische Form zivilisatorischen Lebens.

Ich fürchte aber, dafür fehlt es den Debatten im Land noch an nötiger philosophischer Tiefe, sowohl medial als auch politisch als auch gesellschaftlich.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false