zum Hauptinhalt

Panorama: Der Moloch

17 Millionen Menschen plagen sich in Indiens Mega-City Delhi mit Wassermangel und Verkehrschaos herum

Immer tiefer führt die schmale Gasse durch das Häusergewirr in das Stadtviertel Khanpur. An den Seiten verlaufen, kleine offene Abwasserkanäle. Die schmierige Brühe wabert vor sich hin. Unrat hat die Kanäle verstopft. Hier wohnt irgendwo die 22-jährige Nitu. Im Haus 379, G-Block. Doch die Adresse hilft nicht viel im Häusermeer der Riesenstadt Delhi, die viel zu schnell gewachsen ist.

Khanpur ist eine von Delhis vielen wuseligen Siedlungen, in denen sich auf engstem Raum viel zu viele Menschen drängen. Einst war Khanpur ein Dorf, doch die rasant wuchernde Stadt hat es geschluckt. Kühe, Ziegen und Hühner laufen herum. Westler würden wohl von einem Slum sprechen. Doch tatsächlich wohnen hier schon beinahe mittelständische Familien. Wie Millionen andere sind auch Nitus Eltern einst auf der Suche nach einem besseren Leben nach Delhi gekommen. Zumindest für Nitu hat sich der Traum ein Stück weit erfüllt. Die Familie ihres Mannes besitzt ein winziges Haus, hat genug zu essen und Arbeit.

Doch Privatleben ist Luxus in einer heillos überfüllten Mega-City wie Delhi. Nur die Reicheren können – je nach Lage 200 bis 2000 Euro – für eine Vier-Zimmer-Wohnung zahlen. Enge bestimmt das Leben der Armen und Ärmeren. Nitus Haus hat zwei winzige Räume, jeder gerade sieben Quadratmeter groß. Aber immerhin haben ihr Mann und sie ein Zimmer für sich. Im anderen schlafen Schwiegermutter und Schwager.

Trotz Hitze steht der Deckenventilator still. „Stromausfall“, entschuldigt sich Nitu. Stromausfälle sind Alltag in Indiens Metropolen. Vor allem im Sommer, wenn in Büros, Lokalen und den Häusern der Betuchteren die Klimaanlagen laufen und der Energiebedarf auf Spitzenwerte hochschnellt, bleibt oft über Stunden der Strom weg. Jedes Jahr im Sommer verschärfen sich auch die Wassernöte. In manchen Vierteln rinnt bisweilen nur noch braune Brühe aus dem Hahn, oder es gibt tagelang gar kein Wasser.

14 Millionen Menschen lebten nach Zahlen von 2000 in Delhi, heute sind es wahrscheinlich schon über 17 Millionen. Da sind die verkrüppelten Bettler, die sich nachts auf verfilzten Decken am Straßenrand zusammenrollen. Da sind die Bauarbeiter, die unter Plastikplanen auf dem nackten Straßenbelag campieren. Da ist die @-Generation, die in Callcentern mit der weiten Welt kommuniziert. Da sind die Großfamilien, die abends im Restaurant zusammensitzen. Da sind die Reichen, die nach London und New York jetten. Da sind die Söhne der dekadenten Elite, deren Tage um drei Uhr nachmittags mit einem Glas Whisky beginnen.

Auch das Stadtbild spiegelt die Extreme. Elende Slums grenzen an grüne Nobelviertel, dörfliche Stadtregionen, in denen sich noch Büffel in Schlammlöchern wälzen, liegen neben städtischen Einkaufsmärkten, historische Muslim-Kolonien wie Old Delhi nicht weit von dem von den Briten erbauten Regierungsviertel. Im Verkehr fahren Rikschas neben glänzenden Mercedessen, teilen sich Kühe, Pferde und Elefanten die Straße mit Bussen und Lastwagen.

Indiens Hauptstadt hat sich sprunghaft ausgebreitet und über 200 Dörfer einverleibt. Ähnlich explodiert ist Indiens größte Metropole Bombay: Dort schnellte die Einwohnerzahl seit 1941 von 1,7 Millionen auf heute über 20 Millionen hoch, zählt man den Großraum dazu. Und jedes Jahr drängen Hunderttausende Zuwanderer nach.

Ob Delhi, Bombay, Kalkutta oder Madras – die Probleme von Indiens Mega-Cities gleichen sich. In Delhi leben etwa 50 Prozent der Menschen in illegalen oder halb legalen Siedlungen, die kaum über ein funktionierendes Abwasser- und Stromnetz verfügen. Mit den Menschenmassen wachsen Umwelt- und Verkehrsprobleme. Zwar hat Delhi Autorikschas und Busse auf umweltfreundlicheres Gas umstellen lassen, doch an Smogtagen ist die Luft schon oft wieder derart schlecht, dass die Menschen gräulichen Auswurf husten. Das öffentliche Verkehrsnetz ist chaotisch. Auch die neue U-Bahn steckt erst in den Anfängen. Derzeit sind gerade drei Linien in Betrieb und weite Teile Delhis überhaupt nicht angeschlossen. Doch trotz all dieser Nöte und Miseren empfinden viele „Delhiwallahs“, die Menschen in Delhi, eine seltsame Zuneigung zu der chaotischen Metropole. Auch Nitu. „Delhi“, sagt sie, „ist eine sehr schöne Stadt“.

Christine Möllhoff[Neu-Delhi]

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false