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Gesundheit: Zeit ist das größte Geschenk

Eltern chronisch kranker Kinder sind ständig gefordert. Der Verein Nestwärme hilft – auch in Berlin

Es sollte eine Hausgeburt werden. Aber als die Herztöne des Babys plötzlich schwächer wurden, fuhr Frauke Beyer (Name geändert) mit ihrer Hebamme ins Krankenhaus. Dort ließ man sich Zeit. Erst nach Stunden wurde Jacob per Kaiserschnitt geholt. Den Sauerstoffmangel und einen Schlaganfall hatte er nur knapp überlebt. Er konnte nicht selbstständig atmen.

Frauke Beyer arbeitete damals in einem internationalen Friedensprojekt in Portugal. Die ersten fünf Monate verbrachten Mutter und Kind auf einer Intensivstation in Lissabon, dann folgten elf Monate Reha-Klinik in Brandenburg. Seit Sommer 2010 wohnt die 34-jährige Heilerziehungspflegerin mit dem inzwischen zweijährigen Jacob allein in Berlin. Denn hier kann er optimal gefördert werden. Aber auch wenn sie an ihren Aufgaben wächst und ihrem Sohn „eine tiefe Erfahrung von Liebe verdankt“ – sie verbringt mitunter recht einsame Tage.

Eines Tages stieß sie auf die Internetseite von „Nestwärme“, einem Verein, der Familien mit behinderten oder chronisch kranken Kindern hilft. Er ist mit 1500 Ehrenamtlichen in zehn deutschen Städten vertreten, 100 von ihnen engagieren sich in Berlin. Frauke Beyer wünschte sich, dass jemand kommt, „der etwas Leckeres kocht“. Das tut seit einem halben Jahr einmal in der Woche die „Zeitschenkerin“ Dajana Brehme. Besonders gut an kommt ihr Kürbisgericht mit Zwiebeln und Knoblauch. Der kleine Jacob darf davon aber nur vorsichtig probieren, denn er wird noch über eine Magensonde ernährt und nachts auch noch künstlich beatmet. Am Anfang war es für Dajana Brehme noch eine Herausforderung, „mit einem kleinen kranken Wesen ganz normal umzugehen“. Doch Jacob war lieb und geduldig mit ihr und steckte sie jedes Mal mit seiner Lebensfreude an.

Dank Logopädie, Ergo- und Physiotherapie holt er langsam seine Rückstände auf, lernt laufen und wird irgendwann ganz normal atmen, schlucken und sprechen können. Der Zweijährige ist geistig fit und geht mittlerweile in eine Integrationskita. Dajana Brehme, die als Kundenberaterin im Bereich Informations- und Datensicherheit beruflich sehr eingespannt ist, nimmt ihre Aufgabe als Zeitschenkerin sehr ernst. Auch wenn sie sich manchmal anstrengen muss, alle Termine unter einen Hut zu bekommen: In ihrem Job geht es hauptsächlich um Business – die soziale Komponente fehlt. Schon lange wollte sie sich ehrenamtlich engagieren. „Es gibt mir ein gutes Gefühl, etwas zu tun, anstatt einfach nur Geld zu überweisen“, sagt sie. Für Jacobs Mutter hat sie absolute Hochachtung, weil sie ihre Situation annimmt und aus allem das Beste macht. Da relativieren sich die eigenen Probleme.

Elisabeth Schuh ist Psychologin und Mitbegründerin von „Nestwärme“. Sie weiß: „Eltern kranker Kinder müssen uneinschätzbar lange mit einer Ausnahmesituation klarkommen.“ Sie leben in einem Dauerstress, der viele hormonelle, biochemische Prozesse auslöst, die letztlich zum Burn-out führten. Doch diese Eltern haben keine Zeit, sich um sich selbst zu kümmern. Das Ende vom Lied: körperliche und seelische Verausgabung und ein totaler Erschöpfungszustand. Irgendwann kommt der Zusammenbruch. Die ganze Familie leidet, insbesondere die Geschwisterkinder. Die Paarbeziehung kriselt. „Wir wünschen uns deshalb, dass sich Betroffene frühzeitig an uns wenden“, sagt Nestwärme-Gründerin Petra Moske.

Der Verein begleitet die Eltern auch durch den Ämterdschungel. Fragen um die Pflege, Anträge auf Rollstühle oder Behindertenausweise – rund 22 000 Familien konnte dabei geholfen werden. Die 45-jährige Betriebswirtin Moske weiß, was die Betroffenen begleitet: ständige Sorgen, Ärger mit der Bürokratie und Angst vor dem sozialen Abstieg. Der Verein will ihnen das Gefühl vermitteln, dass sie mit ihren Sorgen nicht allein sind.

Auch Peter Trenn ist Zeitschenker. Sein Talent ist das Organisieren. Früher hatte er ein Reisebüro, heute arbeitet der 70-Jährige manchmal 30 Stunden in der Woche ehrenamtlich für den Verein. Er sucht nach neuen Freiwilligen und lädt einmal im Monat zum Zeitschenker-Stammtisch. Jeden neuen Helfer besucht er vorher zu Hause und führt ausführliche Gespräche. Wenn er es schafft, Schenker und Beschenkte zusammenzubringen – derzeit sind es in Berlin ein gutes Dutzend Familien – ist er glücklich. Und es gibt einige Helfer, die „ihre“ Familie noch suchen. Doch auch die Nachfrage steigt – der Bedarf ist groß.

Es gibt vieles, wobei die Ehrenamtlichen helfen können: Fahrdienste oder Reparaturen übernehmen, Einkäufe erledigen, beim Papierkram helfen. Und den gestressten Eltern die Möglichkeit geben, etwas für sich zu tun. Jeder Zeitschenker erhält vor dem Einsatz eine Schulung. Dabei geht es nicht um den Ersatz für medizinische Pflegekräfte oder Haushaltshilfen. Anfängliche Berührungsängste werden schnell überwunden. Nicht nur die Beschenkten, auch die Schenkenden profitieren. Denn alles, was man weggibt, bekommt man doppelt und dreifach zurück.

Nestwärme Berlin im Gesundheitszentrum Blütenhof, Reinhardtstraße 3, Tel. 24 37 7076, E-Mail: peter.trenn@nestwaerme.de, Zentrale in Trier: Tel.: 0651/99 20 12 20, www.nestwaerme.de

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