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Der Leiter des Ukraine-Lagezentrums der Bundeswehr: Generalmajor Christian Freuding.

© picture alliance/dpa/Kay Nietfeld

„Durchhaltefähigkeit der Russen unterschätzt“: Bundeswehr-General zieht kritische Zwischenbilanz des Ukraine-Krieges

Der Leiter des Ukraine-Lagezentrums des Verteidigungsministeriums spricht von überhöhten Erwartungen und fehlerhaften Analysen. Generalmajor Freuding sieht aber auch positive Entwicklungen.

Seit bald zwei Jahren verteidigt sich die Ukraine gegen den vom russischen Machthaber Wladimir Putin befohlenen Angriffskrieg. Zehntausende Soldaten auf beiden Seiten wurden bereits getötet, weit mehr verletzt. Viel Hoffnung hatten die Regierung von Präsident Wolodymyr Selenskyj und die westlichen Unterstützer inklusive Deutschland auf die Gegenoffensive gesetzt – doch die verpuffte weitgehend.

Der Leiter des Ukraine-Lagezentrums der Bundeswehr, Generalmajor Christian Freuding, hat sich nun in einem Interview unter anderem kritisch zu den Einschätzungen der westlichen Verbündeten geäußert, aber auch davor gewarnt, die Ukraine aufzugeben.

Man habe „die Durchhaltefähigkeit der Russen am Anfang nicht so gesehen, wie wir sie heute beurteilen“, sagte der 52-Jährige, der inzwischen als einer der engsten Berater von Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) gilt, der „Süddeutschen Zeitung“. „Wir haben auch nicht gesehen, dass ihnen gelingen wird, was wir jetzt klar beobachten: Dass sie ihren militärisch-industriellen Komplex hochfahren, ausbauen, Produktionskapazitäten, trotz des drakonischen Sanktionsregimes, steigern.“

80 Prozent der Ukraine sind immer noch frei, und das nach zwei Jahren gegen eine angebliche militärische Großmacht.

Christian Freuding, Leiter des Ukraine-Lagezentrums der Bundeswehr

Die Erwartung, dass die Ukrainer bei ihrer Gegenoffensive schnell möglichst große militärische Erfolge erzielen, sei „in der Rückschau sicherlich überhöht“ gewesen, sagte Freuding, der auch den neuen Planungs- und Führungsstab leitet, der die Prozesse bei der Bundeswehr bündeln und schneller machen soll. „Daher glaube ich, wir sind gut beraten, weiterhin sachlich auf diesen Krieg zu schauen, auf die russischen Fähigkeiten wie auf die ukrainischen“.

Kritisch merkte der General an, man habe vielleicht nicht gesehen oder nicht sehen wollen, dass Russland in der Lage sei, von Verbündeten weiterhin versorgt zu werden. „Sei es Nordkorea, sei es China, auch Staaten aus dem globalen Süden. Und wenn diese Staaten nur Kühlschrank-Beleuchtungen liefern, die dann zu militärischen Zwecken verwendet werden können.“

Die Ukraine kämpfe weiterhin mutig und entschlossen. „Dass ihre Gegenoffensive zum Stehen gekommen ist, lag auch daran, dass sie keine Luftunterstützung hatte und es an Flugabwehr und Luftverteidigung mangelte.“ Diese Mittel habe das ukrainische Militär zum Schutz ihrer Bevölkerungszentren und der kritischen Infrastruktur einsetzen müssen.

„Außerdem griff die Ukraine ausgesprochen gut ausgebaute Stellungen der Russen an, die in einem Maße vermint und mit Sperren versehen sind, wie wir das in diesem Umfang wohl noch nicht gesehen haben“, sagte Freuding. Daher hätten die Ukrainer erhebliche Ausfälle bei Minenräumpanzern und ähnlichen Gerätschaften gehabt, sodass sie im Prinzip gezwungen gewesen seien, die Minen nachts per Hand zu räumen. „Und das dauert sehr, sehr lange und ist natürlich auch mit hohen Verlusten verbunden.“

Zugleich betonte Freuding, er sehe nicht, dass durch die derzeitige Lage eine Art Grenze zementiert werde. Aus seinem militärischen Blickwinkel betrachtet, hätten die ukrainischen Streitkräfte Erfolg. „80 Prozent der Ukraine sind immer noch frei, und das nach zwei Jahren gegen eine angebliche militärische Großmacht. 50 Prozent der Gebiete, die sie verloren hatten, haben sie wiedergewonnen. Die Schwarzmeerflotte der Russen ist de facto aus dem westlichen Schwarzmeer verdrängt.“

Die Ukraine kämpfe weiterhin mutig und entschlossen, sagt Generalmajor Christian Freuding.
Die Ukraine kämpfe weiterhin mutig und entschlossen, sagt Generalmajor Christian Freuding.

© Imago/Ukrinform/Vyacheslav Madiyevskyi

Der Ukraine gelinge es zunehmend, „Schläge auch mit selbstgebauten Waffensystemen in der Tiefe hinter den russischen Linien zu führen“. Freuding sagte, die russischen Verluste an Mensch und Material seien enorm. Er verwies auf die Zahlen von westlichen Geheimdiensten, die von bisher 300.000 getöteten oder so stark verwundeten russischen Soldaten ausgehen, dass sie im Verlauf des Krieges nicht mehr einsetzbar seien.

Der General weiter: „Wir gehen davon aus, dass sie im hohen vierstelligen Bereich Verluste an Kampfpanzern und Schützenpanzern zu verzeichnen haben.“

Gleichzeitig gelinge es den Russen weiterhin, Personal zu rekrutieren, sagte Freuding: „Unter den Rahmenbedingungen dieses autokratischen Systems, unter anderem durch die Heranziehung von Strafgefangenen. Und wir sehen natürlich diese massiven Investitionen in die Rüstungsindustrie, die auch durchaus mit Kapazität, Erhöhung und Erweiterung insbesondere in der Munitionsproduktion einhergehen.“

Es gehe um die territoriale Integrität der Ukraine, so der General

Das politische Ziel müsse sein, die territoriale Integrität und Souveränität der Ukraine wiederherzustellen. „Ob das aus der taktischen Operationsführung im Jahr 2024 entstehen kann, lässt sich heute noch nicht abschließend bewerten. Aber natürlich muss der Anspruch zur Wiederherstellung der territorialen Integrität unverändert bleiben, sagte der Berater des Verteidigungsministers.

Mit Blick auf die Bundeswehr sagte Freuding, eine wichtige Lehre aus dem Krieg in der Ukraine sei die völlig neue Bedeutung von Drohnen-Kriegsführung. „Wir haben jetzt eine Task Force Drohne eingerichtet. Sie soll uns rasch ermöglichen, unterschiedliche Drohnen-Typen und auch Systeme zur Drohnen-Abwehr in die Truppe einzuführen, damit wir auch mit Ausbildung, mit Experimentieren beginnen können.“

Das werde nicht nur für mechanisierte Verbände des Heeres relevant sein. „Einsatz und Abwehr von Drohnen wird in Streitkräften eine „Jedermann“-Aufgabe werden“, kündigte er an. (lem)

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