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Der ukrainische Präsident Selenskyj Anfang Oktober in Kiew.

© IMAGO/ZUMA Wire/IMAGO/Ukraine Presidency/Ukrainian Pre

Politischer Streit in Kriegszeiten?: Selenskyj will keine Wahlen im Frühjahr 2024

Ursprünglich sollten im nächsten März Präsidentschaftswahlen in der Ukraine stattfinden. Daraus wird wohl nichts. Eine Mehrheit der Ukrainer befürwortet das.

Vielleicht waren es die Häufung von schlechten Nachrichten in jüngster Zeit, die zum Stimmungsumschwung des ukrainischen Präsidenten geführt haben: Die Unterstützung für die Ukraine in den USA wackelt und die Gegenoffensive stockt. Auch ein Unfall wie der Tod des Assistenten des Oberbefehlshabers der ukrainischen Armee, Walerij Saluschny, drücken in Kiews Entscheiderzirkeln die Stimmung.

Internen politischen Streit kann man da nicht gebrauchen. Und so rückte Selenskyj in einer seiner jüngsten Videobotschaften von seiner früheren Entscheidung ab, am 31. März 2024 Präsidentschaftswahlen abzuhalten.

„Jetzt hat die Abhaltung von Wahlen ihre Bedeutung verloren“, erklärte er. „Wenn es notwendig ist, in diesem oder jenem politischen Streit einen Punkt zu setzen und nur in Einheit weiterzuarbeiten, gibt es Strukturen im Staat, die in der Lage sind, einen Punkt zu setzen und der Gesellschaft alle notwendigen Antworten zu geben“, sagte der ukrainische Präsident etwas verklausuliert weiter. Im Klartext: In der aktuellen Situation darf es keinen politischen Streit geben. Der Präsident kann die notwendigen Entscheidungen treffen.

Die nächsten Parlamentswahlen in der Ukraine sollen eigentlich Ende Oktober 2023 stattfinden, die Präsidentschaftswahlen im kommenden Frühjahr. Aufgrund der Verhängung des Kriegsrechts wurden die Parlamentswahlen jedoch auf unbestimmte Zeit verschoben. Auf der Ebene der ukrainischen Gesetzgebung ist die Durchführung von Wahlen während des Kriegsrechts allerdings nicht eindeutig geregelt.

Partner aus dem Westen würden Wahlen befürworten

Sicher dagegen ist: Nach ukrainischem Recht muss der Wahlkampf für die Präsidentschaftswahlen 90 Tage vor dem Wahltermin beginnen. Sollte die Ukraine beschließen, die Präsidentenwahlen Ende März 2024 abzuhalten, müsste die Entscheidung also im Dezember dieses Jahres fallen. Der Stabschef des Präsidenten, Andrij Jermak, sagte dazu noch Ende September. „Wir haben gesehen, dass in Amerika sogar während des Krieges Wahlen abgehalten wurden, also können wir es im Prinzip, theoretisch, in Betracht ziehen, wenn sich die Gelegenheit ergibt, und wir sollten nicht vergessen, dass Wahlen ein Symbol für eine demokratische Gesellschaft sind.“

Genau so sehen es wohl auch viele der westlichen Partner. Im Sommer erklärte der republikanische Senator Lindsey Graham bei einem Treffen in Kiew, dass die Wahlen in der Ukraine nächstes Jahr unabhängig vom Kriegsrecht stattfinden sollten. Graham sagte, die Ukraine sei in der Vergangenheit „sehr korrupt“ gewesen, weshalb die USA die Waffen- und Geldlieferungen an die Ukraine „genau überwachen“ und Unregelmäßigkeiten bei der Verteilung dieser Hilfen aufdecken würden.

Wir müssen an der Politik der Einheit festhalten. Die Einheit muss bis zum Sieg halten. Jeder Wahlkampf kann sie zerstören.

Petro Poroschenko, ehemaliger ukrainischer Präsident

Auch jetzt begründen viele Republikaner die Ablehnung weiterer Waffenlieferungen mit der Korruption in der Ukraine. Man wisse schlicht nicht, wo genau die Mittel landeten, so der Vorwurf. Die Absage von Wahlen könnte den Eindruck verstärken, dass man in Kiew lieber keine Kontrolle will, auch durch das eigene Volk.

Aber selbst die ukrainische Opposition ist sich einig, dass das Abhalten von Wahlen in Kriegszeiten durchaus riskant ist. Auch der fünfte Präsident der Ukraine, Petro Poroschenko, sagte in einem Interview mit der französischen Zeitung „Le Figaro“: „Wir müssen an der Politik der Einheit festhalten. Die Einheit muss bis zum Sieg halten. Jeder Wahlkampf kann sie zerstören.“

Umfragen zeigen, dass eine Mehrheit der Ukrainer Wahlen erst nach dem Kriegsende will. Im Juni veröffentlichte das Internationale Institut für Soziologie in Kiew die Ergebnisse einer Umfrage, nach der 68 Prozent der Ukrainer das Parlament auch während es Krieges neu wählen würden, 47 Prozent die Regierung und 23 Prozent den Präsidenten.

Drei Szenarien, wie es in der Frage der Wahlen weitergehen könnte

Im Gespräch mit dem Tagesspiegel nennt der Politologe Wolodymyr Fesenko drei mögliche Szenarien für die Präsidentschaftswahlen. Das erste ist, dass die Abstimmung verschoben werden muss, wenn der Krieg nicht bald aufhört, was unwahrscheinlich ist. Seiner Meinung nach ist die Option, sowohl Präsidentschafts- als auch Parlamentswahlen nach dem Ende des Krieges abzuhalten, aus politischer und militärischer Sicht am sinnvollsten.

Im zweiten Szenario werden die Wahlen auch dann abgehalten, wenn sich der Krieg hinzieht und die Regierung eine Bestätigung ihres politischen Kurses wünscht. In diesem Fall müssten die Gesetze zum Kriegsrecht geändert werden. Im Jahr 2014 fanden in der Ukraine bereits Präsidentschaftswahlen während des Krieges statt. Der Unterschied: Damals war das Kriegsrecht nicht verhängt worden.

Als drittes Szenario nennt Fesenko eine Aussicht auf ernsthafte Friedensgespräche mit Russland. „Die Verbündeten der Ukraine werden wahrscheinlich verlangen, dass eine Regierung mit einem legitimen Mandat an den Verhandlungen teilnimmt“, sagt er. „Daher wäre es besser, vor den Verhandlungen Wahlen abzuhalten“, so der Politologe.

Ein weiteres Problem: Im Moment kann die Ukraine nicht garantieren, dass alle ukrainischen Bürger an den Wahlen teilnehmen können. Die Zahl der Kriegsflüchtlinge, die in andere Länder geflohen sind, liegt zwischen drei und sieben Millionen Menschen. Wo genau sie sich aufhalten, um zum Beispiel Wahlunterlagen zuzustellen, wird in vielen Fällen schwierig herauszufinden sein.

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