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Bundespräsident Steinmeier begrüßt den türkischen Präsidenten Erdoğan bei dessen Berlin-Besuch am 17. November 2023.

© dpa/Michael Kappeler

Viel mehr als Döner-Diplomatie: Steinmeier setzt in der Türkei auf Seitenhiebe gegen Erdoğan

Bei seinem Besuch trifft sich der Bundespräsident mit politischen Gegnern seines türkischen Amtskollegen. Und zeigt: Deutschland bereitet sich auf eine Türkei ohne Erdoğan vor.

Ein Kommentar von Anja Wehler-Schöck

Eine schwierige Beziehung wird nicht dadurch besser, dass man sich aus dem Weg geht. Im Gegenteil. Warum ist Frank-Walter Steinmeiers Türkei-Reise also die erste eines Bundespräsidenten seit 10 Jahren? Die Frage offenbart ein schweres Versäumnis.

Die Türkei – und damit auch ihr Präsident Erdoğan – ist für Deutschland, die EU und die Nato, der sie angehört, ein unverzichtbarer Partner. Allem verständlichen Ärger zum Trotz.

Die geostrategische Lage des Landes am Bosporus könnte kaum von größerer Bedeutung sein. Angesichts der prekären Sicherheitslage im Nahen Osten gilt das umso mehr. Die Türkei liegt an zwei bedeutenden Gewässern, dem Schwarzen Meer und dem Mittelmeer, und grenzt an den Kaukasus, den Iran, den Irak und Syrien.

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Beim Thema Migration wird Europa ohne Zusammenarbeit mit der Türkei keine nachhaltige Lösung finden. Die Zukunft des EU-Türkei-Deals steht auf Steinmeiers Themenliste zweifellos ganz oben.

Auf Regierungsebene sind die Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei seit Jahren extrem angespannt. Bei Erdoğans Besuch in Berlin im vergangenen November begegnete man sich kühl. Das wird auch an diesem Mittwoch, wenn sich Steinmeier und Erdoğan in Ankara treffen, kaum anders sein. Zu schwer wiegen Erdoğans autokratischer Kurs, die vielen Versuche, die westlichen Partner zu manipulieren und zu erpressen, und, nicht zuletzt, sein Kuschelkurs mit der Terrororganisation Hamas.

Doch der Bundespräsident beherrscht das Spiel der Diplomatie. Mit seinem Reiseprogramm zeigt er vor allem eines: Die Türkei ist nicht Erdoğan. Deutsch-türkische Beziehungen existieren auch jenseits der Regierungsebene.

Dass Steinmeier sich mit dem regierungskritischen Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk trifft, mit Vertretern der Zivilgesellschaft über Rechtsstaatlichkeit diskutiert, sendet ein wichtiges Signal. Denn in der Türkei werden Kulturschaffende, Wissenschaftler, Journalisten, Andersdenkende seit Jahren von der Regierung gegängelt, werden Opfer politischer Verfahren, sollen mundtot gemacht werden.

Größere und kleinere Seitenhiebe gegen Erdoğan ziehen sich wie ein roter Faden durch Steinmeiers Türkei-Reise. Die Stadt Gaziantep in Südostanatolien, die der Bundespräsident am Dienstag besuchte, war im Februar 2023 Epizentrum des schweren Erdbebens, das die Türkei und Syrien erschütterte. Auf den schnellen Wiederaufbau, den Erdoğan damals versprach, warten die Menschen dort noch heute.

Gaziantep steht symptomatisch für Erdoğans politisches Scheitern in der Türkei. Denn dem Mann der großen Parolen, der sich gerne als Heilsbringer geriert, gelingt es nicht, die tatsächlichen Probleme des Landes zu lösen. Allen voran die Wirtschaftskrise und die andauernde Hyperinflation, die viele Menschen in die Armut treiben.

Türkische Gastarbeiter in den 1970er-Jahren in Berlin-Kreuzberg.

© dpa/Ullstein Bild

Viel Zuspruch erfährt Steinmeier für die Gesten, mit denen er die Leistung der türkischen Gastarbeiter in Deutschland würdigt. Doch drängt sich dabei die Frage auf, warum diese Art der Wertschätzung 63 Jahre nach dem Anwerbeabkommen nicht bereits selbstverständlich ist. Und es zeigt: Deutschland fremdelt mit der Türkei noch immer.

Die zweifellos nett gemeinte Geste, tiefgefrorenes Dönerfleisch aus Berlin als Gastgeschenk in ein Land mit vorzüglicher Küche mitzubringen, fällt als – buchstäblich geschmackliche – Verirrung aus dem Rahmen. Doch auch wenn die missglückte „Döner-Diplomatie“ zum Lästern einlädt, bleibt sie eine Nebensache, die eher die deutschen als die türkischen Gemüter bewegt.

Der beachtlichste diplomatische Tritt vors Schienbein, den Steinmeier Erdoğan versetzt, ist die Rolle, die er der Opposition einräumt. Gleich nach Ankunft traf sich der Bundespräsident mit Ekrem İmamoğlu, dem Bürgermeister von Istanbul und Erdoğans gefährlichstem politischen Rivalen.

Ein vielsagender Termin. Denn zum einen fügte İmamoğlus Partei, die oppositionelle CHP, Erdoğans AKP bei den Kommunalwahlen vor drei Wochen an vielen Orten empfindliche Niederlagen zu. Zum anderen wird an diesem Donnerstag eines von mehreren Gerichtsverfahren gegen İmamoğlu fortgesetzt, mit denen Erdoğan – so darf man getrost unterstellen – sich des Widersachers entledigen will.

Die Treffen mit der Opposition rahmen Steinmeiers Türkei-Besuch ein. Zum Abschluss steht ein weiteres Gespräch mit einem prominenten Gegner Erdoğans auf dem Programm. Der Bundespräsident macht damit deutlich: Er setzt auf eine Türkei nach Erdoğan. Und Deutschland bereitet sich darauf vor.

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