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Am Ende einer langen Ehe. Hauptdarsteller Charlotte Rampling (69) und Tom Courtenay (78) als Kate und Geoff.

© Agatha A. Nzecka

"45 Years" mit Charlotte Rampling: Die Schrecken des Eises und der Ehe

Regisseur Andrew Haigh erzählt in seinem Drama „45 Years“ von einem Ehepaar, das in eine späte Krise gerät. Großartig: die beiden Hauptdarsteller.

Paare, die sehr lange verheiratet oder seit anderweitigen Ewigkeiten aneinander gebunden sind, kennen dieses Gefühl: Einst heftige Beziehungskrisen überzieht historische Patina. Statt der stets unberechenbaren Leidenschaft breitet sich nahezu geschwisterliche Urvertrautheit aus, und endlich geht man so innig wie achtsam miteinander um. Irgendwie gemütlich das, und in ganz besonders selbstvergessenen Augenblicken meint man den Partner sogar besser zu kennen als er sich selber.

Natürlich ist das eine schöne Illusion, geboren aus der Sehnsucht, sich – zumindest herbstwärts im Leben – gänzlich fallen lassen zu können in die Liebe. Was wissen wir denn tatsächlich voneinander – und überhaupt über uns selbst? Haben wir uns nicht, frei nach Max Frisch, bloß immer und immer wieder die eine Geschichte erzählt, die wir für unser gemeinsames Leben halten, und nun glauben wir sie auch noch? Und lassen sich scharfkantige Eckdaten, zumindest die aus dem Vorleben des geliebten Partners, überhaupt rundschleifen, gehören die nicht seiner letztlich unverfügbaren Jugend allein?

Aus derlei gültigen Zweifeln erwächst die Membran, die Andrew Haighs Film „45 Years“ über schlanke 93 Minuten und die nüchtern voranschreitende erzählte Zeit einer knappen Woche in Schwingung hält. Seine von wenigen prägnant gesetzten Figuren umgebenen Hauptdarsteller Charlotte Rampling (69) und Tom Courtenay (78) geben darin das aneinander auf vorbildliche Weise alt gewordene Ehepaar Kate und Geoff, das sich auf die Feier zum 45. Ehejubiläum vorbereitet.

Ein Brief bringt das Paar aus der Balance

Die Party zum 40. Jahrestag war wegen Geoffs Bypass-Operation ausgefallen, also steht ein besonderes Fest des Lebens und Überlebens bevor – beste Voraussetzungen eigentlich für einen jener modischen Süßstofffilme, die das Silver-Ager-Publikum mit dem Älterwerden zu versöhnen trachten. „45 Years“ aber bietet Sauerstoff, auch Bitterstoff – kurzum alles, was das selten gewordene gute Kino für Erwachsene ausmacht.

Ein bisschen alt geworden ist alles in dem Landhäuschen nahe Norfolk, das die beiden Rentner, sie einst Lehrerin, er in der Geschäftsleitung einer Fabrik, gemeinsam bewohnen – die Sofakissen, die Mikrowelle, der Garderobenständer, die Kühlschrankmagneten, Alltagskulissen eines ruhig dahinlebenden kinderlosen Ehepaars. Eines Morgens, Kate kommt zurück von ihrer Runde mit dem inzwischen auch ein bisschen alten Zottelhund Max, liest Geoff einen Brief am Küchentisch. „Sie haben meine Katya gefunden“, sagt er leise – seine Jugendliebe, mit der er vor 50 Jahren im Schweizer Hochgebirge unterwegs war und die nach dem Sturz in eine Gletscherspalte nie geborgen werden konnte. Die Tote sei im Eis konserviert, liest er, und nun werde er als „nächster Angehöriger“ informiert.

Als nächster Angehöriger? Das ist Kates erste Frage, mit der sie in eine verschlossene, scheinbar vergessene Welt vordringt. Geoffs Antwort ist noch verträglich: Man habe sich damals, 1962, als Ehepaar ausgeben müssen, wenn man zusammen reisen wollte. Kate aber fragt weiter und recherchiert in Geoffs unterm Dach weggekramten und ihm plötzlich wieder wichtigen Erinnerungswinkeln auf eigene Faust. Was sie entdeckt und verstummen lässt, verändert ihren Blick auf das gemeinsam verbrachte Leben radikal. Hat Geoff gelogen, indem er Kate etwas Fundamentales aus seiner Jugend verschwieg? Wie verlogen wird beider Beziehung sein, wenn fortan Kate ihrem Mann das neue Mitwissen verschweigt? Und wohin mit dem bohrenden, alles zersetzenden Zweifel: Wer bin ich, Kate, verglichen mit Katya – ein Ersatz, eine schlechte Kopie?

Großes Kino auf scheinbar kleinstem Raum

Szenen einer implodierenden Ehe zeigt „45 Years“ in ruhigen, langen Einstellungen, Szenen, in denen kaum je eine Stimme sich ins Schrille steigert, Szenen von unvermutet markerschütternder Einsamkeit. Rampling und Courteney spielen das unerhört sublim, sprechen die sich über nichts erhebenden Alltagssätze, die zugleich Literatur sind in Haighs eigenem, nach einer Kurzgeschichte von David Constantine entwickelten Drehbuch. Und wie ihre Gesichter sprechen, wenn beide schweigen, und wie die dunstig lichte Landschaft spricht, wenn die Gesichter schweigen, und wie die Tonspur abseits der Wörter spricht, vom ersten Sound im Vorspann an: Das alles ist großes Kino auf scheinbar kleinstem Raum.

Mehr davon reden? Nein. Nur dass Leben, auch zartestes Zusammenleben, lebensgefährlich bleibt, gegen allen Abendfrieden. Nichts tröstet, nichts heilt. Alles ist auszuhalten. Und dann entscheidet der erste Zug doch.

In Berlin in folgenden Kinos: Blauer Stern Pankow, Capitol, Cinema Paris, Delphi, FT Friedrichshain, fsk, Yorck/New Yorck; OmU: Hackesche Höfe, International, Kulturbrauerei, Odeon

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