zum Hauptinhalt

80. Geburtstag: Ivan Nagel: Der Theaterdenker

Das Drama des Lebens, die Lust des Lernens: Am Dienstag feiert Ivan Nagel seinen 80. Geburtstag. Journalist, Philosoph, Intendant - er ist süchtig nach Kunst.

Er hat sich immer als Lernender verstanden und empfindet dieses Lernen als „unvergleichliches Glück“. In seinem neuen Buch, den „Schriften zum Theater“, erklärt der 1931 in Ungarn geborene Journalist, Dramaturg, Theaterleiter und Ästhetikprofessor: „Wenn man als Kind mit Büchern aufwächst und mit Musik, nützt einem keine theoretische Belehrung über die kritische Funktion von Kunst, auch keine Analyse der Machart eines avancierten Musikstücks. Man hängt weiter süchtig an der Kunst, weil sie die böse Welt ersetzt, einen gegen die böse Welt abschirmt – weil sie das Gegenteil des Lebens ist, das man als Kind noch nicht kannte, aber schon fürchtete. Für diese Furcht bekam ich dann, dreizehnjährig, mit dem deutschen Einmarsch sehr konkrete Anlässe.“

Die Nazizeit überlebte Nagel mit seiner Familie in einem Budapester Versteck. 1948 floh er nach Zürich, den Verfolgungen Andersdenkender nun unter kommunistischer Herrschaft zuvorkommend. Nicht von Lebensgier, mehr von „Lerngier“ überfallen, las der Schüler damals Thomas Manns Exilroman über den deutschen Tonsetzer Adrian Leverkühn, „Doktor Faustus“, und erkor sich dessen musiktheoretischen Berater Theodor W. Adorno zum Lehrmeister. Nach ersten Semestern in Paris und Heidelberg studierte Nagel dann von 1952 bis 1958, wie lange erhofft, bei Adorno in Frankfurt am Main.

Adornos „Genauigkeitsgebot“ befolgend (genau heißt nicht textgetreu, sondern nach dem Notwendigen fragen) und dessen Anspruch erfüllend, ein Denkender der Kunst zu sein, das heißt, Kunst als Lebensform zu begreifen und sie zum Maßstab des eigenen Schreibens zu machen, wurde Nagel dennoch kein Vertreter der Frankfurter Schule. Zwar praktizierte er den Grundsatz, dass kritische Deutung ein Kunstwerk nicht platt aktualisieren darf, aber er widerstand allen Verlockungen, Adornos Diktion, seine Denkfiguren und seinen einzigartig suggestiven Wortgebrauch nachzuahmen. Diese Distanz war und blieb die Voraussetzung seiner prinzipiellen Treue zu Adorno.

Den Aufbruch einer neuen Generation von Theatermachern nach 1968 begleitete er dann lieber als Kritiker für die „Süddeutsche Zeitung“, wechselte aber 1972 die Seiten und wurde Intendant des Hamburger Schauspielhauses, um hier so verschiedene Regisseure wie Noelte, Lindtberg, Peymann, Giesing, Schroeter, vor allem aber Zadek und Bondy nebeneinander arbeiten zu lassen. Kein buntes Kaufhaus der Stile war angedacht, sondern einander widersprechende Annäherungen an eine „schon vielfältig inkonsistente, bruchstückhafte Wirklichkeit“. Auf dem Papier ging solche Rechnung immer leichter auf als auf der Bühne. Hier trat oft die störende Kluft zwischen ästhetisch Gewolltem und künstlerischem Gelingen in Erscheinung.

Vom aufreibenden Theaterbetrieb erholte sich Nagel dann als Kulturkorrespondent für die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ in New York. Als Fellow des Berliner Wissenschaftskollegs schrieb er danach Studien zu Mozarts Opern, aus denen er das wunderbare Buch „Autonomie und Gnade“ komponierte, einen konzentrierten Essay, der Abbreviaturen, Lesestücke und analytische Interpretationen zu einem schlüssigen gesellschaftlichen Bild des ausgehenden 18. Jahrhunderts fügt und die Utopie der Emanzipation des Bürgers zum Menschen entwirft. Nach einem nochmals lehrreichen Intermezzo als Intendant des Stuttgarter Staatsschauspiels (1985–1988) nahm Ivan Nagel dann eine Professur für „Ästhetik und Geschichte der Darstellenden Künste“ an der Berliner Hochschule der Künste an.

Die Professur war für ihn kein Anlass, sich vom aktuellen Theatergeschehen zurückzuziehen. Mehr als zuvor hielt er es für geboten, die besten Impulse und Aufbruchsenergien der Kultur- und Theatererneuerung der Jahre von 1970 bis 1989 in Erinnerung zu rufen und dem Provinziellen, allem moralischen und ästhetischen Kleinmut zu widersprechen. In den Jahren nach dem Mauerfall sparte Nagel nicht mit Aufrufen und Einsprüchen, weil er die immensen Chancen, die der Prozess der unerwarteten Einigung bot, optimal genutzt sehen wollte, aber in der Regel nur die Versäumnisse anprangern, die sträfliche Vernachlässigung von Geist und Kultur zugunsten ungehemmter Entfaltung undemokratischen Rentabilitätsdenkens beklagen konnte. Nagel setzte aber durch, dass der Volksbühne unter der Leitung von Frank Castorf und Matthias Lilienthal institutionelle Sicherheit gewährt, schließlich auch fast der gesamte Komplex der ehemals Ost-Berliner staatlichen Bühnen in Anerkennung ihrer künstlerischen Potenziale erhalten wurde.

Seinen hervorragenden Ruf und intellektuelle Autorität sicherte sich Nagel nicht zuletzt durch seine Schriften zur Kunst, zum Drama und Theater. Das Opus magnum seiner kunsttheoretisch-ästhetischen Bemühungen ist die 2009 erschienene Publikation „Gemälde und Drama“ über die Gründung abendländischer Malerei aus Geist und Körpern des Theaters. Es geht dem Interpreten nicht um das Interesse für platte Wirklichkeit, sondern für eine, die zur Wahrnehmung eines Bildraums führt, der über Sprache und Ton verfügt und ihn auf diese Weise für die Malerei als Drama plädieren lässt.

Mit „Gemälde und Drama“ hat das Haus Suhrkamp, der Verlag von Th. W. Adorno, Walter Benjamin, Gershom Scholem, Ernst Bloch, Ludwig Wittgenstein, Peter Szondi und Hans Blumenberg, den Grundstein zur Publikation auch des Gesamtwerks von Ivan Nagel gelegt. In diesem Jahr sind in rascher Folge erschienen: der Band „Goya – Dannecker“, der die beiden Studien „Der Künstler als Kuppler" (Goyas Nackte und Bekleidete Maja) und „Zur Lage der Frau um 1800“ (Danneckers Ariadne auf dem Panther) enthält, sowie die beiden korrespondierenden Bände „Schriften zum Drama“ und „Schriften zum Theater“, die eindrucksvoll die Summe des Lernens von Nagel – aus fünfzig Jahren – als Leser und Dramaturg, als Zuschauer und Kritiker bekunden.

Seine nicht resignierende Bilanz lautet: „Der Streit hat sich gelohnt.“ Heute feiert Ivan Nagel seinen 80. Geburtstag. Möge ihm noch lange vergönnt sein, der Robert Walser’schen Maxime treu zu bleiben: „Ich liebe das Gefährliche, das Abgründige, das Schwebende und das Nicht-Kontrollierbare.“

Klaus Völker

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false