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Kultur: Abends um sechs ist die Welt in Ordnung

Schule, Kirche – und alle gucken Telenovelas: Besuch bei den Roma im rumänischen Blaj. Ein Vorabdruck / Von Rolf Bauerdick.

Am frühen Abend leeren sich die Gassen in den Roma-Vierteln von Blaj. Mädchen, die eben noch Händchen haltend umherschlenderten, sind auf einmal verschwunden. Frauen, die gerade noch angeregt mit Nachbarinnen schwatzten, verziehen sich in die Häuser und Wohnstuben. Ionina, Codrutza und Elvira verlieren plötzlich die Lust am Gummitwist, stattdessen folgen sie dem Lockruf des Fernsehers. Wenn die drei Schwestern, Alter neun, zehn und zwölf Jahre, vor der Mattscheibe hocken, sind sie kaum mehr ansprechbar. Ebenso wenig wie ihre Mutter Joana. Denn um sechs beginnen die Telenovelas. Billige Serienproduktionen, aus Indien oder Südamerika. Unschlagbarer Favorit unter den Schmonzetten in Rumänien ist die Zigeunerromanze „Inima de Tigan“. Geiz und Gier, Intrige und Verrat, Untreue und Liebesrausch, Herz und Schmerz, alles gibt es reichlich zwischen schier endlosen Werbeblöcken. In „Herz der Zigeuner“ sehen Helden noch wie Helden aus und Schurken noch wie Schurken. Die Dialoge verstehen selbst Kleinkinder.

Anfangs dachte ich, die Satellitenschüsseln auf den Dächern auch der erbärmlichsten Hütte seien zaghafte Indizien eines Ausstiegs aus dem Elend, Symbole einer Anbindung an die Welt. Von außen betrachtet mag das so sein. Doch die Fernsehgeräte sind keine Statussymbole. Wenigstens nicht primär. Sie sind Fluchtfahrzeuge. Die Novelas erlauben imaginäre Ausflüge, in denen sich das Gefühlsleben aus der Trostlosigkeit des Alltags katapultiert, hinein in Träume von Wohlstand und Glück, die jederzeit wieder zerrinnen können, bevor sich das Blatt mit neuen Gewinnchancen abermals wenden kann.

Das Fernsehen fungiert als eine RaumZeit-Maschine. Sie produziert eine Endlosschleife an Bildern, einen unablässigen Strom an Erregungsmustern, der ermöglicht, sich in ersehnte Welten zu phantasieren, ohne sich aufraffen und auf den Weg machen zu müssen. Wohin auch? Und wozu auch? Wo die Woche zwischen Montagmorgen und Sonntagnacht nichts zu bieten hat als eine öde Wüste der Ereignislosigkeit, reicht es mitzufiebern. Es scheint, als würden die Protagonisten der Fernsehromane fremde Leben leben, ab 18 Uhr, stellvertretend für ihre Zuschauer.

„Wenn ,Herz der Zigeuner’ läuft“, sagt Joana Sirbu, „dann bebe ich vor Aufregung.“ Von den über 200 Episoden haben sie und ihre Töchter keine einzige verpasst. Ebenso wie die Serien aus Brasilien. „Nur, die sind nicht leicht zu verstehen.“ Nicht wegen der portugiesischen Sprache, sondern wegen der eingeblendeten rumänischen Untertitel. Denn Joana kann nicht lesen. Die kuriose Folge: In Zigeunersiedlungen wie Plopilior oder Barbu Liautiarul lässt sich mit ein paar Brocken Portugiesisch oder Spanisch durchaus Smalltalk betreiben. „Qué tal, señor?“, fragte mich Codrutza, als sie sich nach meinem Befinden erkundigte.

Wie sehr das Satellitenfernsehen Einfluss auf das Leben der Roma nimmt, weiß Lucian Mosneag, der als Priester neben seelsorgerischen auch mit kirchenamtlichen Aufgaben betraut ist. Etwa mit dem Führen eines Taufregisters. „Vor der Revolution 1989 hatten fast alle Zigeuner christliche Namen.“ Die Registratur bestätigt: In kommunistischer Zeit waren Ana und Maria, Ion oder Gheorghe die uneingeschränkten Lieblinge. Hin und wieder findet man einen Stalin, Rambo, Kennedy oder Gagarin. Häufiger einen Tarzan. Ab 1990 dann, im Zuge der neuen Freiheit, häuften sich die Gregs, Bobbys und Pamelas, benannt nach den Akteuren der Fernsehserie „Dallas“ aus der Welt der schönen, reichen und gehässigen Egoisten.

„Heute wollen die Zigeuner, dass ich ihre Kinder Pablito, Rudi, Sandokan oder Vandana taufe“, erzählt Lucian. So heißen die neuen TV-Helden. Ihre Funktion erschöpft sich nicht darin, ihr Publikum in wunschloser Apathie einzulullen. Sie wecken auch Begehrlichkeiten. Sie nähren die Sehnsucht, dazuzugehören, endlich in Europa zu landen, endlich anzukommen in der Ersten Welt. Dass diese Welt tatsächlich existiert und nicht nur als Inszenierung für den Bildschirm, beweisen jene Roma, die es geschafft haben. In jeder Siedlung gibt es Familien, denen der Sprung gelungen ist: von der Armut in den Reichtum, von der Bedeutungslosigkeit in Positionen relativer Macht, innerhalb der Hierarchie der eigenen Ethnie.

Reiche Aufsteiger, Patriarchen in Protzpalästen und synthetische TV-Helden mögen als Idole infantiler Bewunderung taugen, als Vorbilder dienen sie nicht. Gerade daran mangelt es den Roma, was sie selbst am meisten beklagen. Es hapert an positiven Lebensentwürfen, an Modellen für gelungene Mittelklasse-Biografien, die Kindern und Jugendlichen eine alltagstaugliche Orientierung bieten. Es fehlt an lokalen Führern, deren Blick über den Rand des eigenen Familienclans hinausragt; an geduldigen Lehrern, die zum Lernen motivieren; an Geschäftsleuten und Handwerkern, die Ausbildungsplätze schaffen; ganz zu schweigen von Akademikern, die sich mit ihrem Wissen gesellschaftliche Anerkennung erworben haben.

Nicht, dass es solche Menschen nicht geben würde, doch ihre Zahl ist zu gering, als dass ihr Einfluss von Gewicht wäre. Schon vor Jahren diagnostizierte der tschechische Roma-Aktivist Ivan Veselý unter den ziganen Eliten den Trend, „sich von der Mehrheit der Roma zu distanzieren, vor allem von jenen, die arm oder in Konflikt mit dem Gesetz geraten sind“. Dass sich der Erfolgreiche vom Erfolglosen abgrenzt, ist keine allzu neue Einsicht. Das Problem ist laut Veselý auch ein anderes. „Roma, die den Aufstieg geschafft haben, verlieren oft die Hoffnung, etwas zur Verbesserung der Lage der Minderheit beitragen zu können.“

In einem aufsehenerregenden Manifest distanziert sich der ungarische Wirtschaftsberater István Forgács radikal von seinem Volk. Jedoch nicht, um sich loszusagen. Der Absolvent der Hochschule für staatliche Verwaltung in Budapest will seine Leute wachrütteln und knüpft sein Bekenntnis zur ziganen Identität an Bedingungen: „Ich gehöre zu euch, sobald ihr versteht, dass die Nichtzigeuner die einzig mögliche Lösung für die gesamte ungarische Gesellschaft, vor allem aber für die Zigeuner sind. Ich sage das deshalb, weil die Nichtzigeuner über all die Ressourcen verfügen, auf die auch wir angewiesen sind. Aber wir kommen an sie nicht heran, weil unser Vater oft genug die Sozialhilfe versäuft. Oder der Zinswucherer unsere Mutter verprügelt. Oder unsere große Schwester wegen der Schulden nach Holland verschleppt wird … So viele von euch verleugnen das, aber das ist der Grund, warum wir nicht zu den Ressourcen gelangen … Die Nichtzigeuner leiten die Städte, sie leiten die Schulen. Sie schaffen Arbeitsplätze, können Arbeitnehmer einstellen, Kredite gewähren. Sie können Häuser verkaufen oder vermieten – an denjenigen, an den sie wollen –, als Nachbar verleihen sie ihren Rasenmäher, wenn wir ihn brauchen. Sagt der gesunde Menschenverstand nicht, dass wir versuchen sollten, bestmöglich mit ihnen auszukommen?“

Die trennenden Barrieren der Ethnien zu überwinden, war die Idee der staatlichen Grundschule in dem Stadtviertel Plopilior im rumänischen Blaj. In der Schule, nur einen Steinwurf entfernt von Pfarrer Lucians Kirche, war ursprünglich ein gemeinsamer Unterricht für die Kinder der Roma und der Gadsche geplant. Doch vom pädagogischen Konzept „Integration statt Ausgrenzung“ blieb nichts übrig, seit die ethnischen Rumänen ihre Jungen und Mädchen nach und nach wieder abmeldeten. Heute bleiben die 250 Roma-Kinder unter sich.

Stecken dahinter rassistische Motive? „Sicher nicht“, sagt die Lehrerin Angela Mosneag. „Man muss die Eltern verstehen. Viele waren anfangs bemüht und sozial eingestellt. Doch ihre Kinder wurden dauernd krank. Ständig kamen sie mit Läusen und Krätze nach Hause. Wer schickt sein Kind schon gern in eine Schule, wo ständig die Toiletten demoliert werden? Zudem war das Lernniveau so niedrig, dass der Ruf der Schule immer schlechter wurde.“ Auch Ilie, Denis und Rafael gehen nicht mehr im Roma-Viertel zum Unterricht. Die Elfjährigen besuchen die katholische Schule im Zentrum von Blaj namens Surisul Copiilor, „lächelnde Kinder“.

Die Einrichtung wird von der Caritas betrieben und von kirchlichen Hilfswerken aus Westeuropa unterstützt. Sie gilt als vorbildlich. „Ich wollte nicht mehr nach Plopilior“, sagt Rafael. Er trägt ein T-Shirt mit dem Konterfei des muskelbepackten Wrestlinghelden John Cena, der eine eiserne Kette zerreißt. Was nicht darüber hinwegtäuscht, dass Rafael ein freundlicher, überaus ruhiger Junge ist. „In der Roma-Schule ist viel Geschrei und Streit. Brote, Stifte und Hefte, die anderen Kinder nehmen einem alles weg. Auch Geld. Davon kaufen sie sich Süßigkeiten.“ Ilie und Denis bestätigen ihren Kameraden Rafael. Auch Rafael ist ein Roma.

Keine Lehrkraft hat so lange an der staatlichen Schule in Plopilior unterrichtet wie Angela Mosneag, sie ist die Ehefrau des griechischkatholischen Priesters Lucian. Nach mehr als zehn Jahren gab sie auf. „Es war eine extrem harte und verschleißende Zeit. Danach war ich krank und ausgelaugt.“ Seit ihrem Wechsel zur CaritasSchule findet die Pädagogin wieder Freude an ihrem Beruf. „Wenn wir hier in den Klassen einige Roma-Kinder aufnehmen, können wir uns intensiv um sie kümmern, und sie blühen auf. Anders ist die Integration nicht zu schaffen. Denn die Kinder lernen gern. Sie saugen alles Wissen auf, als hätte man ihnen jahrelang die Nahrung vorenthalten.“

Rolf Bauerdick, 1957 geboren, lebt als Schriftsteller und Fotograf in Dülmen. Am morgigen Montag erscheint sein Reportagenband „Zigeuner – Begegnungen mit einem ungeliebten Volk“, dem wir diese Textpassage entnehmen. Zuletzt erschien bei DVA sein Roman „Wie die Madonna auf den Mond kam“.



— Rolf Bauerdick:

Zigeuner –

Begegnungen mit

einem ungeliebten Volk. Reportagen. Deutsche Verlags-

Anstalt,

München 2013.

352 Seiten, 22,99 €

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