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Kultur: Achse des Neuen

Die Ausstellung „Avantgarden in Mitteleuropa 1910-1930“ im Berliner Gropius-Bau

Ob es vor der nationalistischen Verdüsterung Europas in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts tatsächlich so viel einfacher war zu reisen, wie immer wieder verklärend behauptet wird? Tatsache ist zumindest, dass die Reiseziele anders lauteten als heutzutage: Nicht allein Berlin oder Wien, auch nicht nur Prag und Warschau, sondern Posen und Belgrad, Krakau und Bukarest standen auf den Fahrkarten, die die Künstler zu ihren wechselseitigen Besuchen brachten. Mitteleuropa hieß ganz selbstverständlich die Region – und die erst viel später, in den Jahren des Untergangs der kommunistischen Regime, so etwas wie ein Kampfbegriff wurde gegen den sowjetischen Hegemonialanspruch, aber ebenso gegen die westliche Vergesslichkeit.

Aus dieser Vergesslichkeit hat Mitteleuropa noch immer nicht wirklich herausgefunden, allen Annäherungen der Staaten und der demnächst anstehenden EU-Erweiterung zum Trotz. So hat die im Berliner Martin-Gropius-Bau von morgen an zu besichtigende Ausstellung mit den beiden demonstrativen Ausrufezeichen, „!Avantgarden! Kunst in Mitteleuropa 1910-1930“ allein schon darin ihren Verdienst, dass sie diese kulturelle Kernregion zumindest wieder erahnen lässt. Dem heutigen Betrachter fällt es gleichwohl noch immer schwer, sich von Mitteldeutschland bis Südslawien einen Raum vorzustellen, in dem der wechselseitige Austausch keine Angelegenheit allenfalls hoch subventionierter Festivals, sondern schlichte Selbstverständlichkeit und ein Tagesgeschäft der aufgeschlossenen Künstler war.

Es hat in den zurückliegenden Jahren eine Reihe bedeutender Überblicksausstellungen gegeben, die sich den überwältigenden Kunstströmungen der Zwischenkriegszeit unter geografischen Vorzeichen genähert haben: „Paris–Berlin“ aus dem Jahr 1978 ist nur die bekannteste von ihnen. Vor sieben Jahren unternahm es die Berlinische Galerie, mit „Berlin–Moskau“ die sicherlich nicht leichteste, vielleicht aber folgenschwerste Reiseroute vorzustellen. Daran hätte die jetzige, aus dem in Sachen europäischer und speziell deutscher Kunst immens rührigen County Museum von Los Angeles in verkleinerter Fassung übernommene Ausstellung vorzüglich anknüpfen können – wenn sie denn Berlin die gebührende und Moskau überhaupt eine Rolle zubilligen würde. Doch das war nicht das Konzept. In dem – aller Ehren werten – Bestreben, endlich einmal den kleineren, so rücksichtslos vom Lauf der Geschichte verdrängten Kulturzentren Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, kamen dem Mitteleuropa der gegenwärtigen Ausstellungsgeografie seine Fixpunkte abhanden.

Das stimmt natürlich so auch wieder nicht. Berlin und Moskau blieben präsent. Die Berliner Abteilung verzeichnet eine Fülle von an die Spree gekommenen Künstlern, von Sandor Bortnyk bis Lajos Tihanyi – und es verwundert nicht, dass die ungarischen Künstler die reisefreudigsten überhaupt waren, nach dem blutigen Ende der kurzlebigen Räterepublik –, aber da sind auch Ivan Puni und El Lissitzky aus Russland. Um Tausendsassa Lissitzky herum hätte die Ausstellung organisiert werden können, er war überall, wo sich die Avantgarde ein Stelldichein gab, ob in Düsseldorf oder in Weimar.

Weimar: Da saß das Bauhaus, das dann 1925 nach Dessau übersiedelte in sein neues Haus, das wie eine Ikone das Bild der Moderne im Deutschland der Weimarer Republik prägte. Lucia Moholy-Nagy hat es fotografiert, ihrem Mann Laszlo verdankt es einen Gutteil der Anstöße, die es in die Richtung des technisch-industriell ausgerichteteten Experimentallabors führten. Daran hatte auch die holländische Gruppe „De Stijl“ ihren Anteil, aber das ist, ausweislich des Ausstellungsthemas, ein anderes Kapitel.

An solchen Überschneidungen zeigt sich zugleich, dass die Avantgarde-Künstler der Zwischenkriegsjahre eben doch nicht grundsätzlich eine einzige, verschworene Gemeinschaft bildeten. Die polnischen Künstler der Gruppen „Blok“ und „Praesens“, unter ihnen Wladyslaw Strzeminski und Katarzyna Kobro, griffen Anregungen vor allem der frühsowjetischen Kunst auf und führten auf die Höhe, was den Generalnenner der gegenwärtigen Ausstellung bildet: den Konstruktivismus. Er erscheint im Licht der gezeigten Arbeiten tatsächlich internationaler, als er bislang gesehen werden konnte. Aber gerade in dieser Hinsicht stört das Fehlen einer Auswahl Moskauer Künstler.

Bei der vorangegangenen Station im Münchner Haus der Kunst wurde der offenkundige Mangel mit dem Einbau eines „Projektionsturmes“ für Filme von unter anderem Dziga Wertow überspielt – und das Konzept der Ausstellung damit konterkariert. Im Berliner Gropius-Bau haben die Veranstalter eine sehr traditionelle Präsentation gewählt – und tun damit das Richtige, um die vielfach kleinformatigen Werke, vor allem auch die vielen Zeitschriften und dokumentarischen Stücke ins rechte Licht zu setzen. Es sind ja keine grundstürzenden Entdeckungen zu machen; und Namen wie die von August Tschernigoj oder Vane Bor, die bislang den Wenigsten geläufig sein dürften, werden in den einschlägigen Lexika wohl auch in Zukunft übergangen werden.

Aber das bedeutet nicht etwa einen Misserfolg dieser Ausstellung. Indem sie den Blick von den geläufigen Metropolen weg- und zu den regional bedeutenden Zentren lenkt, macht sie die Vielfalt und den Reichtum Mitteleuropas anschaulich – an diesem, aufs Ganze gesehen schmalen Ausschnitt der Avantgardekunst der zwanziger und frühen dreißiger Jahre. Gegliedert nach den einzelnen Städten, werden die Spuren einer reichen kulturellen Vergangenheit lebendig – was durchaus als Paradox zu verstehen ist, handelt es sich doch um Spuren einer einstigen, von den Zeitläuften aber ins Abseits gedrängten Avantgarde. Und wenn man dann das Kleingedruckte mitliest, etwa die Treffpunkte der Künstler in den Cafés von Zagreb, Prag oder Posen, dazu die Stadtpläne, die die – leider im Umfang reduzierte – deutsche Ausgabe des Katalogs zum Glück beibehalten hat, dann ersteht in groben Umrissen vor dem geistigen Auge neu, was dieses Mitteleuropa, diese so wenig exakt definierte und doch so wirkungsmächtige Region einmal bedeutet hat, auch und gerade abseits seiner Hauptstraßen zwischen Berlin und Moskau, zwischen Wien und Budapest.

Martin-Gropius-Bau, Niederkirchnerstr. 7, vom 10. November bis 9. Februar, täglich außer Dienstag 10-20 Uhr. Katalog im Seemann Verlag, Leipzig, 14,95 €, Originalkatalog bei MIT Press Cambridge (Mass.), im Buchhandel 74,80 €.

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