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Kultur: Alle Macht den Drähten!

Die Mensch-Maschine ist wieder zum Leben erwacht. Nach einem Jahre langen elektronischen Winterschlaf haben Kraftwerk eine neue Platte veröffentlicht.

Die Mensch-Maschine ist wieder zum Leben erwacht. Nach einem Jahre langen elektronischen Winterschlaf haben Kraftwerk eine neue Platte veröffentlicht. Wenn die Band zum Frühlingsanfang den Staub von den Platinen pustet und zum ersten Mal seit 1991 wieder in Berlin auftritt, heißt das nichts weniger als die Rückkehr eines Mythos (heute um 19 und 24 Uhr im Tempodrom).

Die Legende entstand im Düsseldorfer Kling-Klang-Studio. Dort realisierten Kraftwerk ihre stilprägende formal strengen, ganz der Logik elektronischer Klangerzeuger unterworfenen Töne, die ganze Musikergenerationen prägten. Mindestens eben so wichtig für die Mythenbildung war das kühne Image-Konzept. Live trat die Gruppe uniform in Roboterkostümen auf und schuf sich so eine anonyme Kollektividentität, hinter der die Musiker, die ihr Privatleben konsequent abschirmten, völlig verschwanden. Obwohl sie damit das Subjekt „Popstar“ formal abschafften, gab die Selbstikonisierung der Musik dennoch eine Gestalt und riss die Band damit aus der Anonymität der körperloser Klänge.

Der Mythos von Kraftwerk gründet auf der LP „Autobahn“ (1974). Erstmals erreichte eine deutsche Band die Top 5 der britischen und amerikanischen Charts. Mit dem 22-minütigen Titelstück schufen Kraftwerk einen Meilenstein der elektronischen Musik. Die einfachen Akkordfolgen sind ein zeitloses Wunderwerk akustischer Ökonomie. Im Ausland steigerte die teutonische Fremdheit noch die Faszination für Kraftwerk – amerikanische Kritiker glaubten statt „fahr‘n fahr‘n fahr‘n auf der Autobahn“ „Fun Fun Fun“ zu hören und bezeichneten die Gruppe fälschlich als „Beach Boys from Dusseldorf“.

Der internationale Siegeszug von Kraftwerk schien nicht zu stoppen. Nachfolgestücke von „Radio-Aktivität“ (1975) bis „Computerwelt“ (1981) entwickelten eine visionäre, elektronische Popmusik. Dass dieser unverwechselbare Sound quasi aus dem Nichts entstandenen sei, ist jedoch eine Legende. Kraftwerk-Lenker Ralf Hütter und Florian Schneider pflegen sie sorgfältig. Dabei blenden sie ihre eigene Entstehungsgeschichte weitgehend aus. Ihr Geschichtsrevisionismus macht selbst vor Kollegen aus jüngerer Zeit nicht halt. So bezeichnen sie Wolfgang Flür und Karl Bartos, die von 1975 bis 1990 zur Stammbesetzung gehörten, inzwischen als „Schlagzeuger, die wir für Tourneen oder Aufnahmen verpflichteten“.

Man mag sich fragen, warum Kraftwerk gerade jetzt wieder in Aktion treten, nachdem sie sich lange Zeit so rar gemacht hatten. Im vergangenen Sommer erschien die CD „Tour de France Soundtracks“ – seit 1986 die erste Veröffentlichung mit neuen Songs. Der solide quecksilbrige Technopop reichte an die Intensität früherer Platten allerdings nicht heran. Gerade weil Kraftwerk an der artifiziellen Soundästhetik mit Vocoder-Stimmen und Roboterbeats festhalten, wirkt die Musik heute anachronistisch. Hütter und Schneider gehen mittlerweile auf die 60 zu. In ihren fluoreszierenden Bühnenkostümen sehen sie allerdings noch ziemlich fesch aus.

Jörg W, er

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