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Kultur: Alles einverleiben

Urs Dietrich, seit letzter Spielzeit alleiniger Chef der Bremer Tanztheaters, bittet zu Tisch und untersucht in seiner Choreographie "Appetit" die verschiedenen Spielarten des Verschlingens. Mit einem furiosen Doppel-Programm gastiert er beim Tanz-Winter im Hebbel-Theater.

Von Sandra Luzina

Urs Dietrich, seit letzter Spielzeit alleiniger Chef der Bremer Tanztheaters, bittet zu Tisch und untersucht in seiner Choreographie "Appetit" die verschiedenen Spielarten des Verschlingens. Mit einem furiosen Doppel-Programm gastiert er beim Tanz-Winter im Hebbel-Theater. Nicht nur der Vorgang des Essens wird untersucht. Mit "Appetit" meint der Choreograf eine elementare Triebkraft, die uns überhaupt erst in ein Verhältnis zur Welt bringt. Der Mensch erscheint hier als ein kaum der Mutterbrust entwöhntes Wesen, das nach immer neuer - auch emotionaler - Nahrung verlangt, das sich alles einverleiben will.

Dietrich konzentriert sich auf diese quälende Konstante: ein ewiges Gieren und dauerndes Sehnen. Vorgeführt werden fünf Tänzer, die hektisch, weil unbefriedigt hinter etwas herjagen. Von einem unstillbaren Verlangen werden sie umgetrieben, das hat etwas erschreckend Infantiles, fast schon Unheimliches. Ein weißes Tischtuch ist ausgebreitet. Aufgetischt werden die entfesselten Gelüste und Begierden. Die Tänzer nähern sich einander, um dann hemmungslos übereinander herfallen. Saugen sich am anderen fest. Küsse werden zu Bissen. Die sexuelle Gier dominiert, Liebe wird zum Kannibalismus - dies variiert Dietrich in Szenen von rabiater Komik. Einer fiebrigen Unrast, einem Sehnen, das den Körper zerreißt, leiht die großartige Sunju Kim in ihrem Solo Ausduck. Sie ist keineswegs die sanfte Verführung. Sie verkörpert die Frau, die sich nimmt, was sie will. Die ungeniert zugreift. Dietrich zeigt den Menschen nicht nur als physisches Mängelwesen, sondern in seiner emotionalen Abhängigkeit. Nein, der Choreograf stellt seinen Akteuren keine dauerhafte Befriedigung in Aussicht. Keine leichte Kost, doch der unstillbare "Appetit" ist einfallsreich und bezwingend in Szene gesetzt.

In "Passionen.Passagen" lässt Urs Dietrich den Aggressionen vollends freien Lauf. Spürt einer unaufhaltsamen Verrohung nach. Ein hoher Raum mit schmutzig braunen Wänden, eine Trainingshalle, ein Schulhof vielleicht. Die Akteure verausgaben sich ein einem verzweifelten Überlebenskampf. Männer und Frauen in schwarzen Anzügen stürzen sich ohne Warnung auf die Mitspieler, rempeln, drängeln, drangsalieren. Hier setzt es nicht nur Klassenkeile. Den Zuschauer springt die Aggressivität auf der Bühne geradezu physisch an. Die Tänzer muten wie durchtrainierte Kampfmaschinen an, die keinen Schmerz zu fühlen scheinen. Doch dann lässt Urs Dietrich die nackte Angst aufscheinen. Die Tänzer in weißer Unterwäsche hüllen ihre wunden Körper in grobe Decken, Schutzsuchende, die sich vor Nähe fürchten. Eine der stärksten Szenen ist das Duo von Sunju Kim und Heiko Büter, die sich in einen verzweifelten Liebeskampf verbeißen. Dietrich stellt nicht nur Schweiß, Keuchen und rohe Kraft aus: die raue und rabiate Motorik transformiert er zu hoch expressiven und explosiven, genau durchrhythmisierten Abläufen. Eine Tour de force, hervorragend interpretiert von den Bremer Tänzern.

Am Ende nähert sich die Gruppe der Rampe, einzelne Silben stammelnd. Diese Sprachlosigkeit berührt einen fast stärker als die Eskalationen von Gewalt. Ein Passionsspiel könnte dies sein, das deutet die kurz eingespielte Barockmusik an. Doch "Passionen.Passagen" bleibt untröstlich. Ein Abend, der einen in den Würgegriff nimmt.

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