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Kultur: Alles im Fluss

Ein Brahms- Requiem im Radialsystem.

Sie sind ja schon mitten unter uns, in Alltagskleidung: Die Sänger des Rundfunkchors, die im Radialsystem gleich Brahms „Deutsches Requiem“ singen werden – als „human requiem“ szenisch eingerichtet von Jochen Sandig, der sich damit erstmals als Regisseur betätigt. Die Hauptidee ist von der ersten Minute an präsent. Dieses Werk ist kein Requiem im klassischen Sinne, es gedenkt nicht der Toten, es richtet sich an die, die noch nicht verstorben sind, an die Lebenden, an uns alle, die wir jetzt im Großen Saal umherlaufen, stehen, auf dem Boden sitzen. Stühle gibt es keine. Denn was das Leben vor allem anderen auszeichnet, sind Atem und Körper, Veränderung, Bewegung, Fluss.

Das funktioniert an diesem Abend auf leise, wunderbare Weise. Der ganze Saal ist in ständiger, langsamer Bewegung, Sänger und Besucher werden zum Leib, zum Schwarm, der wie von selbst zu wissen scheint, wann er sich setzen, wann aufstehen soll. Selbst Phillip Moll und Philip Mayers am Klavier (die diese, von Brahms selbst eingerichtete Fassung bereits mit dem Rundfunkchor eingespielt haben), gleiten, von den Sängern gezogen, durch den Raum. Manchmal wird es zu viel des Guten. Einige Besucher meinen, sich langstrecken zu können, dann steht der Abend kurz davor, in eine gruppentherapeutische Wir-haben-uns-alle- lieb-Gefühligkeit abzurutschen. Doch er tut es nicht. Dafür ist die musikalische Qualität zu bestechend.

Das „Deutsche Requiem“ ist nicht nur Pflichtprogramm für den Rundfunkchor, es ist der Kern seiner Identität, in den vergangenen Jahren drei Mal eingespielt. Auch jetzt funktioniert die Abstimmung trotz der schwierigen Bedingungen hervorragend, abgesehen von minimalen Wacklern. Die Sänger agieren ohne Noten, für einen Konzertchor überhaupt nicht selbstverständlich. Gewaltig und machtvoll donnern die Stimmen bei „Denn alles Fleisch, es ist wie Gras“, dann schweben sie wie ein Schleier im Raum. Schon bald vermisst man das Orchester nicht mehr, kann es sich im Gegenteil gar nicht mehr vorstellen, es würde alles verdecken und zukleistern, was an diesem Abend zart und fein ist. Wenn die Sänger einzeln an den Besuchern vorbeistreichen, sie berühren, sie ihre Körperlichkeit spüren lassen, dann hört man diese eine Stimme ganz besonders deutlich, und plötzlich schimmert die Faktur des Werks in nie gehörter Weise auf.

Bei den beiden Solisten hinterlässt Marlis Petersen einen stärkeren Eindruck als Konrad Jarnot. Ätherisch ist ihr Sopran, dünn, gebrochen im positiven Sinne, als sei er vollgesogen mit Trauer und Trost zugleich. Chorleiter Simon Halsey, der meist direkt am Klavier steht, dirigiert mit entrückter, verklärter, glücklicher Miene. Mit dieser Aufführung, dem neuesten Projekt der Reihe „Broadening the Scope of Choral Music“, zeigt er ein weiteres Mal, dass Chormusik zu viel mehr in der Lage ist, als es der übliche Konzertbetrieb suggeriert.

Zur Fuge über „Herr, du bist würdig“ im sechsten Satz kommen Kinder herein und breiten Decken aus Jute aus – ein Material, das zu Erde wird, aus der Neues sprießt. Diese Kinder sind es auch, die, nachdem die Musik verklungen ist, als Erste klatschen und mit „Sch!“-Rufen zur Stille diszipliniert werden müssen. Dabei passt das doch sehr gut. Kinder kennen kein Ende, für sie ist alles im Fluss. Wie das Leben. Udo Badelt

Noch einmal am 19. 2. zum Abschluss des Festivals „chor@berlin“

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