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Kultur: Alles im Wunderland

Die Erotik des Träumens: Der Dichter Botho Strauß erkundet „Die Nacht mit Alice, als Julia ums Haus schlich“

Von Gregor Dotzauer

Als ob man das Träumen erst entdecken müsste. Seit jeher grenzt es an das Wachen, und welchen Grad an Wirklichkeit man ihm zumisst, ist eine Frage des Zeitalters, der Kultur und der persönlichen Einstellung, aber keine, der man ganz entkommt. Wer lebt, der träumt: als Pendler zwischen den Reichen, erwartungsvoll oder furchtsam, sehnsüchtig oder verächtlich.

Und auch wer schreibt, der träumt: mit jener seltsamen Hoffnung, dass es eine Verbindung zwischen vorgestellten und tatsächlichen Welten gibt. Ovids mythische „Metamorphosen“ oder Edgar Allan Poes moderne Schauermärchen: Sie alle sind bevölkert von Traumgestalten, die sich von der Vernunft nicht einfach zähmen lassen. Die Vernunft braucht sie als ihr Anderes, und wenn der Surrealismus dem Traum zuletzt sogar die Herrschaft über das Leben übertragen wollte, mag das die Verhältnisse nur auf den Kopf stellen. Das Schild, mit dem der Symbolist Saint-Pol Roux vor dem Schlafengehen sein Programm für die nächsten Stunden bekanntgab, könnten sich auch nüchterne Schriftsteller vor die Türe hängen: „Le poète travaille“.

Auch der arbeitende Dichter Botho Strauß, seit 30 Jahren der große Rätselmann der deutschen Literatur und Bühne, muss das Träumen nicht erst entdecken. Schon in seinen ersten Büchern wird gedöst, gedämmert und geschlafen. Bild- und Echoräume öffnen sich, durch die fantastische Partikel wirbeln. Entgrenzung des Bewusstseins allenthalben. Selbst in den Erzählperspektiven seiner Prosa vermischen sich Innen und Außen so sehr, dass der Ort der Überschreitung oft verschwimmt. In der Erzählung „Theorie der Drohung“ aus dem Band „Marlenes Schwester“, mit der der Dreißigjährige 1975 ein frühes Meisterstück veröffentlichte, wird der Ich-Erzähler von den Schreibbewegungen seines Textes verschlungen und taucht, in die Frau verwandelt, die anfangs nach ihm sucht, aus der Geschichte wieder auf. Ähnlichen Mutationen begegnet man nun, verbunden mit einer erotisch grundierten Theorie des Träumens, in seinem jüngsten Buch.

„Jede Nacht besuchen wir die Schule der Vergrößerungen, die das Gedächtnis unserer Liebe und Liebesmöglichkeit auffrischt“, heißt es in „Die Nacht mit Alice, als Julia ums Haus schlich“. „Niemals erleben wir im Wachzustand eine körperliche Berührung in der hyperrealen Dichte und Prägnanz, wie der Traum sie uns bietet. Wir benötigen indes von Zeit zu Zeit eine solche Zufuhr von reiner, bewusstseinsfreier Sinnlichkeit, die weniger dazu dient, uns für unerfüllte Wünsche des Alltags zu entschädigen, als vielmehr zur Schärfung und Stärkung unserer nachlassenden Tagessinne beizutragen.“ Und: „Der Traum kann, was wir im Wachen als fest und fertig sehen, in einen offenen Gestaltwandel zurücksetzen. Er erfüllt lediglich das Verlangen nach der wiedergefundenen Unfertigkeit und Kindheit aller Zusammenhänge.“

Auch das kann man nicht im Ernst noch einmal entdecken. Man kann es nur noch einmal so präzise formulieren, wie Botho Strauß es tut. Doch, und das ist das Ungedachte, das Gegenwärtige an seinem Buch: Man muss das Träumen in vieler Hinsicht wiedererfinden. Denn wo der Mensch bis in den letzten Winkel des Körpers und der Seele als sein eigener Schöpfer auftritt, wo er an seinem Äußeren herumschnitzt, mit Hormonen seinen Stimmungshaushalt reguliert und die eigenen Erbanlagen manipuliert – da konkurriert die beliebige Formbarkeit allen Lebens mit dem Ungeformten des Traums.

Die Schule der Sinne, die Botho Strauß theoretisch für das Träumen beansprucht, steht praktisch zur Disposition: Was bleibt von der nächtlichen Imagination, wenn der Tag sie überbietet? Besteht sie fort in ihrer unwillkürlichen Naivität? Wird sie womöglich zur Schutzzone vor den Zumutungen des Wachbewusstseins?

In „Die Nacht mit Alice“ durchkreuzen sich die Feier des Traums und seine Abschaffung. Dass Botho Strauß die widerstreitenden Motive am Verhältnis der Geschlechter durchspielt, hat nicht nur mit seiner alten Lust an Sommernachtsträumen zu tun, sondern auch mit der Auflösung von Gewissheiten, die auf keinem anderen Gebiet sinnfälliger sind. So trifft man bei ihm auf die „bioplastischen Taschenspielereien“ der „neuen Druden“ und ihre Technik des „RapidMorphingGender“; auf eine Titelfigur, die sich in „Aliceoiden“ vervielfältigt und auch sonst „nicht ganz sie selbst“ zu sein scheint. Getroffen vom „Tropfen der Deformation“ sieht sie sich, zum Erschrecken des Ich-Erzählers, „nur noch zum Verwechseln ähnlich“. Und es heißt: „Vermutlich wird man sich in Zukunft daran gewöhnen, mit äußerlich nicht ganz identischen Personen sein Leben zu verbringen. Es wird nicht länger Unbehagen bereiten, den Arm um jemanden zu legen, der heute eine breite, morgen eine runde und schmale Schulter hat.“

Im umfangreichsten Komplex des aus unzähligen Erzählfragmenten, theatralischen Monologen, Lesefrüchten (u.a. des Iren Lord Dunsany), Denkbildern und Fabeln zusammengefügten Textlabyrinths begleitet man den Erzähler und seine Frau Julia bei einem Experiment. Eingeladen, für fünf Wochen die Villa einer Neurochemikerin und ihres Mannes zu hüten, lässt er sich darauf ein, das Auseinanderdriften seiner Ehe mit einer Injektion aufzuhalten, nachdem die Verhaltensendokrinologin herausgefunden hat, „dass die Neurotransmitter Oxytocin und Vasopresin bei monogamen Feldmäusen an der Erzeugung von Verbundenheit beteiligt seien.“ Bald empfindet er eine „sexuelle Herzenswärme“ wie nie zuvor, bis nach einigen Wochen das tranceartige Wohlgefühl schwindet und Julia, ihrerseits behandelt, rebelliert: „Gewisse Botenstoffe trugen ihr Terror zu.“

In trügerischen Kategorien beschrieben – und Strauß hat wie so oft Spaß daran, seinem in viele Richtungen davontreibenden Erzählen ein pseudorealistisches Gerüst einzuziehen – ist „Die Nacht mit Alice“ die Geschichte eines One-Night-Stands. Der Erzähler, um die fünfzig, gehört dem Beraterteam einer Agentur mit schlecht laufenden Geschäften an. Statt auf die Vermittlung von Künstlern hat sich das Unternehmen auf psychologische Schulungen nach dem Vorbild „amerikanischer Selectivity-Improvement-Programme“ verlegt. Alice lässt sich in rhetorischer Gefechtskunst unterrichten – mit dem Ziel, ihren Freund und letztlich alle Männer „vollständig wehrlos zu machen“. Dabei lernen sie und der Erzähler einander kennen.

Doch je genauer man dieser vermeintlichen Meta-Ebene auf die Spur kommen will, um so mehr entzieht sie sich. Es gibt in diesem Buch weder eine eindeutige Hierarchie noch Chronologie des Geschehens. Wie auf einem Möbiusband befindet man sich bei der Lektüre ständig im Trauminneren und Wirklichkeitsaußen. Einzelne Sätze tauchen Seiten später wörtlich wieder auf: nach beiden Seiten offene Fenster, die von der Allverbundenheit der Szenen zeugen, so abgeschlossen sie wiederum auf anderer Ebene gegeneinander sind.

„Die Nacht mit Alice, als Julia ums Haus schlich“ präsentiert keinen neuen Botho Strauß, allerdings auch keinen alten: Die offenen politischen Einlassungen, zu denen er sich 1993 mit dem „Anschwellenden Bocksgesang“ hinreißen ließ, sind nur wieder zurück in den ästhetischen, vom links- zum rechtsdrehenden Adornitentum konvertierten Furor geflossen, dem sie auch entstammten. Ansonsten entspricht die heterogene Form derjenigen seiner beiden letzten Prosabände „Das Partikular“ (2000) und „Die Fehler des Kopisten“ (1997). Die erotischen Konstellationen nehmen im dauernden Sichverfehlen Muster seiner Theaterstücke wieder auf. Die sarkastische Soziologie des deutschen Alltags, die er 1980 in „Paare Passanten“ zu einem in ihrer Arroganz kaum noch erträglichen Höhepunkt führte, besteht, auch wo sie Sentenzen produziert, ironisch abgemildert fort. Der Ausflug in mythische Nebenwelten – etwa wo „die Leute vom Endgeist“ hausen – erinnert an eine düstere Variante des Syk-Volkes, das seinen spätromantisch eingefärbten Roman „Der junge Mann“ (1984) belebte.

„Die Nacht mit Alice“ betreibt die Verschränkung von Archaischem und Zeitgenössischem, die das Erzählinteresse von Botho Strauß seit langem prägt, komplexer denn je: mit all den gespreizten, um Neologismen wie die „Vorbeifahrtbraut“ oder die „Kopfhochfrau“ nicht verlegenen Manierismen, die der herausragenden Intelligenz des Ganzen genauso dazwischenfahren wie manche angestrengte Metapher.

„Fleisch: Stellvertreter des Herzens im Handgemenge der Liebe“, steht da zum Beispiel. Man darf solche Epigramme nicht einfach als Ausrutscher lesen. Sie stehen für den Willen zur Bedeutung (mit einem Ausrufezeichen) in seinen Texten insgesamt.

Das Zwiespältigste jedoch ist das Schwanken zwischen Passagen, in denen Strauß seine Fantasien nur mit Gegenwartsmaterial ausstaffiert (was weiß er schon von einer Raverin?), und solchen, in denen es uralten Ideen überhaupt erst wieder zu neuem Leben verhilft. Es mag sein, dass Botho Strauß selbst den Unterschied nicht immer sieht. Ihm beim Balancieren am Rande dieses Abgrunds zuzusehen, ist allerdings mit das Ehrgeizigste, das man in der deutschen Literatur derzeit lesen kann.

Botho Strauß: Die Nacht mit Alice, als Julia ums Haus schlich. Carl Hanser Verlag, München 2003. 150 Seiten, 17,90 €.

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