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Kultur: Als die Welt noch zu verbessern war

Aufklärer, Ensemblegeist: Zum Tod des großen Theatermannes und Brecht-Schülers Peter Palitzsch

Er sagte beim Abschied niemals „Auf Wiedersehen“, er sagte immer und grundsätzlich „Leb wohl“.

Peter Palitzsch scheute keine Anstrengung, wenn es um neue Aufgaben ging. Das hat er nie getan. Seit Jahrzehnten blickte er aus seinem asketisch gefurchten Gesicht, das einem sehr weisen Häuptling zu gehören schien, durch seine meist vergnüglich blitzenden Augen auf die Bühne Welt, sprach davon, wie unfassbar gefährdet sie sei und forderte ganz unverdrossen dazu auf, sie mittels der Schauspielkunst zu ändern.

Der 1918 im schlesischen Deutmannsdorf Geborene wirkte eher zurückhaltend, scheu, sprach leise, gewann seinen Nachdruck durch Beharrlichkeit. Wer ihm zuhörte, konnte in eine Zeit eintauchen, in der die gesellschaftlichen Umbrüche und Experimente stattfanden, die unsere Gegenwart grundieren. Er hat sie als Theatermacher mitvollzogen, mitgestaltet. Wer kann das von sich sagen?

Er begann mit siebenundzwanzig Jahren bei Bertolt Brecht als Dramaturg und Grafiker, geriet in die große Zeit des Berliner Ensembles zu Beginn der Fünfzigerjahre, inszenierte gemeinsam mit Manfred Wekwerth jenen legendären „Aufhaltsamen Aufstieg des Arturo Ui“, mit dem das Ensemble fünfzehn Jahre lang triumphal um die Welt zog. Er erlebte und beflügelte die antifaschistische, demokratische Neuorientierung, die auf ein anderes, fortschrittliches Menschenbild zielte. Und er war, als der Mauerbau 1961 Deutschland endgültig zu teilen schien, derjenige, der wohl am deutlichsten handelte unter den politisch denkenden Künstlern; er weigerte sich nach einer Gastinszenierung am Ulmer Theater, in die zugemauerte DDR zurückzukehren. Er tat dies nicht mit großer Geste, sondern mit präziser Begründung: „Wir leben in einem Lande, dessen unselige Geschichte uns bis in die Gegenwart hinein mit Blut und Schande eingehämmert hat, dass es ohne strengstes Verantwortungsbewusstsein nicht geht. Und wir üben dazu einen Beruf aus, der ohne dieses Verantwortungsbewusstsein zum Betrug, zu einer schauerlichen Farce wird.“ Man hat ihn ob seiner rigorosen politischen Moral damals in seiner ostdeutschen Heimat zur Nichtexistenz erklärt.

Mitte der Sechziger übernahm er die Schauspielleitung am Stuttgarter Staatstheater und versammelte Partner um sich, deren Rang in seinen überragenden Inszenierungen dieser Zeit (Shakespeare, Tankred Dorst, Beckett) erkennbar wurde: Hannelore Hoger, Elisabeth Schwarz, Hans Mahnke, Traugott Buhre, Peter Roggisch. Das Stuttgarter Schauspiel stand mitten in den politischen und ästhetischen Debatten jener Jahre. Geschichte, Politik und Kunst gingen auf der Bühne Verbindungen ein, die für die 68er-Generation exemplarisch wurden. Palitzsch, damals schon fünfzig, muss mit den Anforderungen, die er an sich und seine Partner stellte, bis an die letzten Energiereserven gegangen sein. Als man ihm die Leitung des Frankfurter Schauspiels anbot, entschloss er sich, ein utopisches Modell in die Tat umzusetzen: die Abschaffung der alten Herrschaftsformen am Theater. Er verzichtete auf den Intendantentitel, etablierte ein Dreierdirektorium und forderte alle seine Mitarbeiter freundlich auf, fortan gemeinsam über Spielplan, Besetzungen, künstlerische Ziele zu entscheiden und dabei eine sozial differenzierte Einheitsgage zu verdienen.

Sein gebrochenes Verhältnis zur Macht („Ich wollte die allseits geforderte Figur des Leithammels um gar keinen Preis abgeben“) war dabei wohl nicht ohne Einfluss. Er liebte die Freuden des gemeinsamen Entdeckens. Es fiel ihm nicht leicht, sich unmittelbar persönlich mitzuteilen. Man könnte auch sagen: sich wichtig zu nehmen. Er kommunizierte mit Vorliebe über „die dritte, gemeinsame Sprache“. Das war in gewisser Weise Ausgangspunkt und Fluch der Mitbestimmungszeit: Sie setzte Emanzipation und Souveränität der Beteiligten in einem Ausmaß voraus, das jenseits aller Realitäten stand. Von 1972 bis 1980 lief dieser Versuch, der neben der Konzentration großer Namen wie Barbara Sukowa, Hans Neuenfels, Augusto Fernandes einige wenige Aufführungen von theatergeschichtlicher Bedeutung brachte – Klaus Michael Grübers Inszenierung von Brechts „Im Dickicht der Städte“ – , vor allem aber Desillusionierung.

Palitzsch hat die aktuelle Dramatik gefördert und gefordert, wo er konnte: Beckett zu Zeiten, als der für die Linke noch als Nihilist abgestempelt war, Martin Walser, um seine ebenso fälligen wie unbequemen Fragen zu präsentieren, Edward Bond, Harold Pinter, Peter Turrini, David Mamet. Immer ging es ihm um ehrliche, kompromisslose Auseinandersetzung mit den Fragen nach dem gegenwärtigen Zustand der Welt. Als freier Regisseur in Düsseldorf, München, Zürich, Bonn, Basel hat er nahezu jede Chance wahrgenommen, nach einem aktuellen, wenn auch nicht abgesicherten Text zu greifen.

Als er 1992 noch einmal Leitungsverantwortung übernahm und nach dreißig Jahren ans Berliner Ensemble zurückkehrte, in ein Fünfer-Direktorium (mit Heiner Müller und Peter Zadek), das nach wenigen Monaten in Auflösung überging, war das wohl sein problematischster Schritt. Verantwortungsbewusstsein? Nostalgie? Er selbst hat ihn romanhaft genannt, diesen Schritt zurück an den Anfang, und es mag doch ein Drama geworden sein, das seine Kräfte zu überfordern begann. Dennoch ist er diesen Weg gegangen. Er zitierte gern das Brecht-Gedicht über Buddha und das brennende Haus. Die Bewohner zögern, nach draußen zu gehen und etwas zu unternehmen, es könnte ja regnen. Und Buddha sagt: Dann sollen sie eben verbrennen. So sah Peter Palitzsch den Zustand der Welt. Und er begab sich gern in den Regen.

Peter Palitzsch ist am Sonnabend in Havelberg (Sachsen-Anhalt) an einem Lungenversagen gestorben. Er wurde 86 Jahre alt.

Rainer Mennicken ist Generalintendant des Oldenburgischen Staatstheaters. Er hat bei S. Fischer eine Monografie über den Regisseur Peter Palitzsch veröffentlicht.

Rainer Mennicken

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