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Kultur: Als ich einmal tot war

Vor sechs Monaten kannte den Zeichner Marcel van Eeden noch niemand. Jetzt redet alle Welt von ihm

Zufälle. Ein Zufall nur, dass das Zehlendorfer Haus am Waldsee auf so vielen Zeichnungen von Marcel van Eeden auftaucht. „Ich kannte das Haus bisher überhaupt nicht“, erzählt der Künstler und lässt das Auge wohlgefällig durch den schönen Garten schweifen, wo sich die Künstler der Ausstellung „Anstoß Berlin“ gerade zum Sommer-Frühstück einfinden. Was er wusste, war, dass das Haus am Waldsee in den 50er und 60er Jahren ein wichtiger Ort für internationale Gegenwartskunst in Berlin war. Und in diesem Zeitraum spielen seine Bilder.

„K. M. Wiegand, Haus am Waldsee, Berlin“ heißt der Titel gleich mehrerer Zeichnungen. Man sieht: einen Ausstellungsraum, Oberlicht, Stahlskulpturen, Bilder an der Wand, einen Besucher auf einer Bank. K. M. Wiegand ist ein fiktiver Künstler, den Marcel van Eeden mit rund 150 Zeichnungen begleitet. Immer das gleiche Format, immer schwarz-weiß, immer der gleiche Protagonist. Karl McKay Wiegand war eigentlich ein Botaniker, der von 1873 bis 1942 in Amerika lebte. Van Eeden dichtet ihm ein wildes Leben an: als Künstler, Spion, Bankräuber, Boxer, Liebhaber von Rita Hayworth, Ehemann von Elizabeth Taylor … Die Serie war auf der diesjährigen Berlin Biennale zu sehen und machte den bis dahin in Deutschland unbekannten Marcel van Eeden zum Star. Die Münchner Sammlerin Ingvild Goetz kaufte gleich das komplette Wiegand-Konvolut. Marcel van Eeden wird mit Interviewanfragen überhäuft.

Nun ist van Eeden selbst, wie seine Kunstfigur K. M. Wiegand, mit einigen neuen Zeichnungen im Haus am Waldsee zu sehen, in der Ausstellung „Anstoß Berlin“, die 60 in Berlin lebende Künstler vorstellt. „Ich wurde sozusagen nachnominiert“, scherzt van Eeden, der erst nach der Berlin Biennale eine Einladung zur Teilnahme an der längst fertig geplanten Ausstellung erhielt, in seinem liebenswürdig singenden Deutsch. Dass der in Den Haag geborene Künstler gerade vor drei Monaten nach Berlin gezogen ist und somit nun auch zur Teilnahme an der Berlin-Ausstellung im Haus am Waldsee qualifiziert – auch das: ein Zufall?

Und noch einmal van Eeden: der Kunstverein in Hannover zeigt, lange vor der Berlin Biennale geplant, gerade die erste Ausstellung van Eedens in Deutschland. Die zusätzliche Aufmerksamkeit durch den Berlin-Auftritt kommt Kunstvereins-Chef Stephan Berg gerade recht. Mit dabei, in einer Doppelausstellung mit der Berliner Malerin Corinne Wasmuth: natürlich die Serie „K. M. Wiegand“. Und eine neue 150-teilige Serie „Celia“, die van Eeden extra für Hannover angefertigt hat. Nun sitzt er schon an der nächsten Serie. Das Thema lautet: Berlin, ein Forscher und der Pergamonaltar.

Der Einfluss des Zufalls auf das Leben, das ist das große Thema von Marcel van Eeden. „Enzyklopädie meines Todes“ heißt das Langzeitprojekt, an dem er seit 1993 arbeitet, und wahrscheinlich noch jahrelang weiterarbeiten wird. Das Ziel: jeden Tag eine Zeichnung, mit Negrostift, im immer gleichen Querformat von 19 mal 28 Zentimetern, alles einheitlich gerahmt. Die Motive stammen alle aus der Zeit vor van Eedens Geburt im November 1965. „Die Zeit, als ich noch nicht auf der Welt war, interessiert mich besonders“, erzählt der Künstler. Der Gedanke, dass es da Leben gab, bevor es ihn gab. Die Neugier, was diese Menschen vor ihm wohl erlebt haben. Und was sie mit ihm verbindet.

Die Vorlagen nimmt er aus Büchern, aus Illustrierten, aus zufälligen Flohmarktfunden. Ein ganzes Archiv ist so schon zusammengekommen, oft unbedeutende Privatfotos, selten die großen weltgeschichtlichen Ereignisse. Katastrophenbilder sind oft darunter, Brände, Autounfälle, Explosionen. „Rauch zeichnet sich so schön schwarz“, erklärt van Eeden vergnügt – man soll bloß keine Weltdeutung in seine Bilder hineinlegen. Der Künstler gibt sich entspannt. Manchmal zeichnet er nur Schriftzüge, in der immer gleichen peniblen Druckschrift. Altertümlich wirken die Bilder, die so entstehen, sie erinnern an die Zeit, als Fernsehen und Zeitungen nur schwarz-weiß zu haben waren, an die Zeit der Zigarren, schweren Hornbrillen und schönen Schlitten. Und wirken doch eigentümlich bekannt, wie Ausrisse aus vergilbten Zeitungen: die Chronik eines ungelebten Lebens. Jedes Bild gleicht einer Pointe.

Doch die Reihenfolge, das Arrangement in Serien, das so planmäßig, so schlüssig wirkt – auch das nur ein Zufall? „Zunächst entstehen die Zeichnungen, ganz ungeordnet“, erzählt van Eeden, später erst fügt er die Schrift hinzu. Am auffälligsten ist das bei der neuen Serie „Celia“: Texte von vier Autoren, darunter Robert Walser und T. S. Eliot, verbinden sich mit den Zeichnungen von Cocktailparties, Landschaften und Werbung, man ahnt die Geschichte einer jungen Frau mit schlimmem Schicksal, und doch: „Alles nur Projektion“, feixt der Künstler. „Das Gehirn sucht nach Verbindungen, weil wir nur in Verbindungen denken können. Doch die Kombination von Bild und Text ist reiner Zufall.“

Nach Berlin hat es ihn verschlagen, weil der niederländische Maler Armando, mit dem er befreundet ist, so von der Stadt schwärmte, in der er seit 1979 lebt. „Das war ein Sehnsuchtsziel von mir, schon immer. Sich in Den Haag in den Zug setzten und einfach nach Berlin fahren – davon haben wir als Studenten geträumt.“ Deshalb auch taucht Berlin so oft in seinen Bildern auf, von Anfang an. Dass es den Künstler nun selbst in die Stadt verschlagen hat, die noch so viel von der Zeit vor 1965 erzählt: kein Zufall, gewiss nicht.

Heute Abend, 19.30 Uhr, spricht Marcel van Eeden im Haus am Waldsee, Argentinische Allee 30, über seine Arbeit.

„Celia“ und „K.M.Wiegand“: Kunstverein Hannover, bis 20. August. Kataloge (Hatje Cantz) je 24,80 €.

Christina Tilmann

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