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Geboren in Rio de Janeiro, zu Hause in Budapest. Zsófia Bán, Jahrgang 1957.

© ullstein bild, Susanne Schleyer

Zsófia Báns Erzählungen "Als nur die Tiere lebten": Am längsten erinnert sich das Fleisch

Bilder des Bildlosen: Die Ungarin Zsófia Bán stellt am Donnerstag im Berliner Literaturhaus in der Fasanenstraße ihre meisterhaften Erzählungen „Als nur die Tiere lebten“ vor.

Zsófia Báns Erzählungen handeln von allen möglichen Arten von Bildern, insbesondere aber von Fotografien, und sie beginnen mit einer eigentümlichen Hommage an das Röntgenbild. Die ungarische Schriftstellerin stellt sich vor, wie der Physiker Wilhelm Röntgen von der erotischen Ausstrahlung seiner jungen Frau Anna Bertha so verwirrt war, dass er sich von ihr fernhalten musste. Anna Berthas Strahlkraft erscheint ihm so überwältigend stofflich, dass er für sie als Wissenschaftler eine Erklärung finden will. Gegen Ende sieht man abgebildet, was der historische Röntgen fand: eine skelettierte, mit Verlobungs- und Ehering geschmückte Hand, eben „Frau Röntgens Hand“ aus dem Jahr 1895, die der Erzählung ihren Titel gegeben hat.

Auch die 14 anderen Geschichten des Bandes „Als nur die Tiere lebten“ kreisen um das Wissen, das Bilder vermitteln. „Das Bild ist der Kaiser des Lebens. Es hat Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft, eine Geschichte und ein Gedächtnis, mit einem Wort, es hat alles“, heißt es programmatisch in der „Kurzen Geschichte der Fotografie“. Die Fotografin Anna Dénes, eine typische Figur dieser stofflich und motivisch eng verzahnten Texte, verkörpert die Abgründe jenes Mediums, das nicht nur unsere Gegenwart, sondern auch unsere Erinnerungen beherrscht.

In der Titelgeschichte gelingt es Anna Jahre nach dem Tod ihrer Mutter, in der Antarktis ein Foto zu machen, das deren Sterben angemessen wiedergibt: ein White-out, in dem alle Farben und Formen von einem leeren, weißen Raum verschluckt werden. Vom eigentlichen Gegenstand des Bildes ist nichts zu sehen, doch es zeigt, was auch die Sprachbilder dieser klugen Autorin festhalten wollen: den Augenblick, in dem das Leben sich gleichsam nackt zeigt.

Um solche grellen, schmerzhaften und existenziellen Momente ging es schon in Zsófia Báns grandiosem Debüt „Abendschule“, jener als Schulbuch angelegten „Fibel für Erwachsene“, die wie die vorliegenden Erzählungen von Terézia Mora in ein funkelndes Deutsch gebracht wurde. Autorin und Übersetzerin sind dafür zum Internationalen Literaturpreis des Hauses der Kulturen der Welt nominiert.

Bán ist ein Kind von Holocaust-Überlebenden

Die Heldinnen von Báns äußerlich kalter, innerlich glühend heißer Welt sind in den fünfziger Jahren aus Budapest geflohen. Von Folter und Gefängnis verstört, holen Traumata sie auf Partys oder Reisen immer wieder ein – obwohl sie doch jetzt in paradiesischer Freiheit, in der Nähe des Meeres und in einem betörenden Klima leben. Doch kommt ihnen emotional niemand mehr nahe, und obwohl sie, wie Annas Mutter, sieben Sprachen sprechen, reden sie in keiner davon mit ihren Kindern. Die Mutter, kühl und beherrscht, achtet zwanghaft auf ihr Aussehen, denn „die Disharmonie der Farben ist der Tod der Eleganz“, hatte ein Zyniker in Budapest angesichts ihres gelben Sternes gesagt – ein Satz, der Anna in den Ohren hallt.

Ein Bild ist für Zsófia Bán alles bewusst oder unbewusst ins Gedächtnis Gebrannte. Ihre Geschichten umkreisen jene Bilder, die im Familienalbum fehlen: das asthmatische Röcheln und die nächtlichen Fieberanfälle, die Momente innerer Erstarrung, die angstvollen Lügen und die verzweifelte Gier nach körperlicher Lust. Auch von den im Ghetto verhungerten Großeltern gibt es kein Bild. Zsófia Bán, 1957 in Rio de Janeiro geboren und in Brasilien und Ungarn aufgewachsen, ist ein Kind von Holocaust-Überlebenden. In ihren Geschichten sind Holocaust-Schicksale stets anwesend und abwesend zugleich.

Ihre Erzählerinnen bauen sich als Gerüst für ihr brüchiges Leben eine Philosophie der Berührungen, des Begehrens und der Hoffnung. Nicht nur das pulsierende Licht und das in unzähligen sinnlichen Varianten erscheinende Wasser, sondern auch Gerüche haben darin eine stoffliche Qualität. In einer der schönsten Geschichten, „Drei Versuche mit Bartók“, kehrt die Erzählerin nach Jahrzehnten der Abwesenheit nach Budapest zurück, endlich hebt sich ihr innerer eiserner Vorhang – sogar den „peinlichen Furzgeruch der vorgeschriebenen Wörter“ hat sie noch in der Nase.

„Das Fleisch jedoch schweigt und siegt“ – das müssen sich die Lebensflüchtigen dieser Geschichten nach langen, vergeblichen Kämpfen eingestehen. Wie bei W. G. Sebald, über den die an der Budapester Loránd-Eötvös-Universität lehrende Amerikanistin mehrere Essays geschrieben hat, holt sich alles Verleugnete und Verschwiegene sein Recht in winzigen, unwillkürlichen Gesten zurück. Subtil und provozierend sind diese Geschichten, voller beunruhigender Spuren, und in der Gewissheit, dass sie sich nicht einfach auslöschen lassen, doch auch ungeheuer tröstlich.

Zsófia Ban: Als nur die Tiere lebten. Erzählungen. Aus dem Ungarischen von Terézia Mora. Suhrkamp, Berlin 2014. 205 S., 22,95 €. – Autorin und Übersetzerin stellen das Buch am Donnerstag, den 5. Juni, um 20 Uhr im Berliner Literaturhaus vor.

Nicole Henneberg

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