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Kopftuch am Times Square. Seit den Anschlägen des 11. September haben die Amerikaner mehr über den Islam gelernt.

© Bertrand Rieger/laif

Amerika nach 9/11: Konsumismus plus Wahabismus ergibt "Osama McDonald"

Zehn Jahre nach 9/11 ist Amerika so widersprüchlich wie immer: Toleranz steht neben Einwandererfeindlichkeit. Die US-Muslime jedenfalls loben die Lebensqualität – und kritisieren ihren eigenen Konsumismus.

Der Tag ist da, so wie die Frage: Was ist geblieben, zehn Jahre nach dem ersten ausländischen Angriff auf amerikanischem Boden? Irgendetwas doch sicherlich, nach all der Aufregung, bei der wir uns als Teil eines welthistorischen Moments fühlten, über den später Filme gedreht werden.

Niemand hat New York verlassen. Das tägliche Leben ging weiter – aber nicht, weil die Krise zum Regelfall wurde. Für so etwas spricht man besser mit den Leuten im Sudan. Die Krise dauerte einfach nicht lange genug, um zur Regel zu werden.

Geblieben ist Robert Kagans Beobachtung, dass „Amerika sich nach 9/11 nicht verändert hat. Es ist nur mehr es selbst geworden“. Worüber reden Amerikaner in diesen Tagen? Über die Wirtschaft und die Rolle des Staates, Afghanistan, Einwanderung. Nichts davon hat sich durch den 11. September geändert. Gruselig.

Das Musical „Finian’s Rainbow“ von 1947 fängt unsere Liebe-Hass-Beziehung mit dem Thema Einwanderung ein. Da nölt der Sheriff: „Meine Familie hatte Ärger mit Einwanderern, seitdem wir in dieses Land gekommen sind.“ Wir sind alle Einwanderer, wenn wir ankommen, und Einheimische, sobald wir hier sind. Die Zahl der Kopftücher an meiner Universität ist gestiegen. Die Anzahl muslimischer Frauen bei der Frauen-Schwimmstunde der orthodoxen Synagoge hat zugenommen. „Muslim-Punk“ ist der letzte Schrei – Bands, die kritisieren, was der Punkrocker Marwan Kamel „Osama McDonald“ nennt, also westlichen Konsumismus und Wahabismus zugleich.

Was ist nach 9/11 geblieben? „Osama McDonald“ also. Und: Die Kinder der eingewanderten Latinos schließen die Lücke zwischen Armut und dem durchschnittlichen US-Einkommen genauso schnell wie die Kinder der alteingesessenen Armen. Sowohl beim Einkommen als auch bei den College-Abschlüssen bewegen muslimische Amerikaner sich innerhalb der nationalen Norm. Der erste Muslim wurde nach 9/11 in den Kongress gewählt. Die Hälfte der US–Muslime sagt zwar, dass die Feindseligkeit ihnen gegenüber leicht gestiegen sei, aber 66 Prozent von ihnen sagen auch, dass ihre Lebensqualität besser sei als in den meisten muslimischen Ländern. 81 Prozent sind US-Bürger geworden. Es gibt keinen Zusammenhang zwischen der Unterstützung von Gewalt (in den USA fast bei null) und muslimischer Religiosität, die fast identisch ist mit christlicher Religiosität (Kirchgang, religiöse Praxis etc.). Muslimische Amerikaner vertreten die gleichen Ansichten wie die allgemeine Öffentlichkeit über die Rolle der Frau und eine Zwei-Staaten-Lösung für den israelisch- palästinensischen Konflikt.

Trotzdem blüht die Arroganz der Nativisten, derjenigen also, die Privilegien für die Alteingesessenen beanspruchen. Alabama und Arizona haben drakonische Anti-Einwanderungs-Gesetze erlassen. Anti-Einwanderungs-Rhetorik hält sich sowohl bei Tea-Party-Anhängern als auch bei republikanischen Präsidentschaftskandidaten. Vergangenes Jahr drohte Terry Jones, Pastor einer winzigen Kirche in Florida, am neunten Jahrestag von 9/11 einen Koran zu verbrennen.

Weil wir so stolz sind auf unsere Freiheiten und unsere Toleranz, haben wir anscheinend Angst davor, sie durch kulturelle Verwässerung zu verlieren – und werden intolerant. Dennoch: Der nationale Aufschrei gegen Jones’ Koran-Verbrennung war ohrenbetäubend. Auch diejenigen, die gegen eine Moschee am Ground Zero waren, lehnten eine Moschee nur an diesem sensiblen Ort ab, nicht woanders. Die New Evangelical Partnership for the Common Good dreht einen Film zur Bekämpfung von Islamophobie.

Ein anderes Paradox betrifft die Regierung in Washington. Historisch geprägt durch eine Revolution gegen die Kolonialmacht England und die Besiedlung des Kontinents auf eigene Faust, sind die Amerikaner gar nicht so sicher, ob sie überhaupt eine Regierung brauchen. 9/11 hat nichts an unserem Misstrauen gegenüber dem Staat verändert. „Small government“ gilt als besser denn „big government“, und die Standardlösung für alles Übel ist, die Regierung auszuhungern, indem man die Steuern senkt und das Geld zurückgibt an uns, das Volk. Die Minderheitenmeinung – dass eine Regierung nötig ist, um den kleinen Mann vor den Reichen zu schützen – fand während der Großen Depression Gehör, im Zweiten Weltkrieg und zu Beginn des Kalten Krieges. Aber seitdem ist Amerika immer mehr zur Tradition des „small government“ zurückgekehrt.

Diese Tadition zeigt sich, kurz gesagt, im Streit über Obamas Gesundheistsreform, Konjunkturprogramme, Steuersenkungen und das Defizit. Die Fronten in der Debatte sind dieselben wie eh und je. Anne zum Beispiel, die eine für Arme kostenlose Klinik leitet, beschwert sich regelmäßig bei mir über die Gier der Pharma- und Krankenversicherungsfirmen. Aber sie ist auch davon überzeugt, dass die Regierung es noch schlimmer machen würde: Schau dir doch nur die Hilfen für die Banken an! Denen hat Obama Milliarden gegeben – und dann haben sie Geld daran verdient, dass Leute ihre Häuser verlieren. Willst du, dass diese inkompetenten Idioten in Washington für unsere Gesundheit verantwortlich sind?

Lesen Sie weiter. Wie sieht es mittlerweile mit Amerikas Außenpolitik aus?

Das Paradox der Außenpolitik hat sich ebenfalls nicht großartig geändert: Wir glauben so fest an unsere Ideale, dass wir sie gleich ganz aufgeben, wenn wir sie nicht erreichen.

Traditionell engagiert Amerika sich im Ausland, wenn es ein wirtschaftliches und/oder Sicherheitsinteresse hat, und wenn es glaubt, dass es die Zielregion politisch und wirtschaftlich befreien wird. Man möge die Idee vergessen, dass nur die ökonomischen Interessen real sind – und die Freiheitsidee nur Selbstbetrug und Fassade. Sie sind eins. Liberale Demokratie und liberale Märkte verschmelzen in der amerikanischen Perspektive, wie immer in unserer Geschichte. Wir sind bereit, den Preis zu bezahlen, um auf allen Gebieten zu verschmelzen. Aber wenn die Befreiungsaktion schief geht, dann eilen wir zurück nach Hause, wo wir sicher glauben können, dass wir welche sind.

Wir sind in Europa geblieben, den Zweiten Weltkrieg über (trotz der Kosten) und auch im Kalten Krieg, um Konsumenten für US-Produkte (ja, Sie) vor Faschismus und „gottlosem Kommunismus“ zu retten. Trotzdem revoltierten wir dagegen, in Südostasien zu bleiben, weil es mit Napalm, My Lai und einem schmutzigen Krieg nur wenig „Befreiung“ gab, zu wenig, um die heimkehrenden Leichensäcke zu rechtfertigen.

Unsere Politik nach 9/11 in Afghanistan und Irak folgt dieser Tradition. Die heutigen Argumente für einen Rückzug erinnern an die Anti-Vietnamkriegs-Proteste. Das Argument, zu bleiben, erinnert an Woodrow Wilsons Ziel, „die südamerikanischen Republiken zu lehren, gute Männer zu wählen“. Für Obama ist es ein Déjà-vu nach dem anderen.

Vielleicht betrachtet die Welt Amerika seit 9/11 anders, als weniger mächtig, aber nicht, weil wir uns sehr verändert hätten. Die politische und ökonomische Vorherrschaft Amerikas war eine Blase, entstanden nach dem Zweiten Weltkrieg und im Kaltem Krieg. Die Welt ist heute so multipolar wie meist in der Geschichte. Amerika hat neue Restaurants, wie das in meiner Nachbarschaft, das damit wirbt: Alle unsere chinesischen Gerichte sind halal, also o.k. für Muslime. Amerikaner wissen heute mehr über den Islam und Zentralasien. Krieg, so geht der Witz, ist Gottes Art, Amerika Geografie beizubringen. Aber den haben wir schon vor einem halben Jahrhundert erzählt. Über Vietnam.

Marcia Pally lehrt Multilingual Multicultural Studies an der New York University. Zuletzt veröffentlichte sie „The New Evangelicals: Expanding the Vision of the Common Good“ (Eerdmans Press, 2011). Ihren Text hat Jan Oberländer übersetzt.

Marcia Pally

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