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© dpa

Anthropologie: Am Anfang war der Zeigefinger

Der amerikanische Kulturanthropologe Michael Tomasello erhält für seine Untersuchungen über "Die Ursprünge der menschlichen Kommunikation" den Stuttgarter Hegel-Preis.

Ist der Mensch nur ein besonders geschicktes Tier oder unterscheidet er sich grundsätzlich von anderen Lebewesen? Seit Charles Darwin spaltet diese Frage die Humanwissenschaften in Naturalisten und Kulturalisten. Behaupten die einen, alle menschlichen Fähigkeiten fänden sich schon bei höheren Tieren und könnten deshalb aus der biologischen Evolution erklärt werden, sehen die anderen durch Eigenschaften wie Sprache und Denken eine einzigartige Sonderstellung des Menschen begründet.

In diesem Kulturkampf zwischen Biologisten und Metaphysikern hat der amerikanische Kulturanthropologe Michael Tomasello seit seinem 2002 erschienenen Buch „Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens“ eine eigene Position eingenommen. Seine These lautet: Der Mensch unterscheidet sich selbst von seinen nächsten Verwandten, den Menschenaffen, dadurch, dass er über die Fähigkeit zum „kulturellen Lernen“ verfügt. Darunter versteht Tomasello die Möglichkeit, andere Menschen als seinesgleichen zu erkennen, sich in deren Absichten hineinzuversetzen und mit ihnen die Rollen zu tauschen. Beim Vergleich der Entwicklung von Schimpansen und Kleinkindern lässt sich nämlich beobachten, dass Menschenkinder im Gegensatz zu Schimpansen anderen Kindern zeigen, was sie entdeckt haben. Ihre Fähigkeit der Weltwahrnehmung ist verbunden mit der Fähigkeit, mit ihren Artgenossen eine gemeinsame Weltsicht aufzubauen. Tiere können das nicht, sie kennen kein „wir“.

Für diese Forschungen erhält Tomasello am Mittwoch den Hegel-Preis der Stadt Stuttgart. Der alle drei Jahre verliehene Preis soll Wissenschaftler auszeichnen, die in ihrem Werk Motive des in Stuttgart geborenen und in Berlin gestorbenen Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) aufgreifen und weiterführen. Michael Tomasello wurde 1950 in Florida/USA geboren, studierte an der renommierten Duke University Psychologie und Anthropologie und ist seit 1998 Ko-Direktor des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie in Leipzig. Rechtzeitig zur Preisverleihung ist Tomasellos neues Buch auf Deutsch erschienen: „Die Ursprünge der menschlichen Kommunikation“. Es geht darin um die Entstehung der menschlichen Sprache – ein Thema, das von Johann Gottfried Herder bis Noam Chomsky Generationen von Sprachtheoretikern beschäftigt hat. Wieder bezieht sich Tomasello auf Beobachtungen, die er und sein Team beim Vergleich des Kommunikationsverhaltens von Schimpansen und Bonobos einerseits, menschlichen Kleinkinder im Alter zwischen neun Monaten und drei Jahren andererseits gemacht haben.

Tomasellos Resümee: Die menschliche Sprache ist nicht aus vokalen Urformen entstanden, sondern aus Zeigegesten und Gebärdenspiel. Am Anfang war nicht die Stimme, sondern der Zeigefinger. Dieser gestische Ursprung der Sprache wird heute noch sichtbar, wenn wir uns in einem fremden Land, dessen Sprache wir nicht verstehen, verständigen müssen: Dann gestikulieren wir mit den Händen, runzeln die Stirn oder nicken mit dem Kopf. Auch gehörlose Kinder versuchen auf diese Weise mit anderen Menschen Kontakt aufzunehmen. Der Vergleich mit Schimpansen zeigt, dass auch sie Zeigegesten und Gebärdenspiel einsetzen, wenn sie von Artgenossen oder Menschen etwas wollen.

Die Schimpansen betrachten denjenigen, an den sich ihre Gesten richten, lediglich als Mittel, um ein individuelles Ziel zu erreichen. Die Menschenkinder dagegen sehen in ihm jemanden, mit dem man gemeinsame Ziele haben kann. Kleinkinder sind bereits mit zwölf Monaten in der Lage, ein „Wir-Gefühl“ auszubilden und aus der Vogelperspektive auf die Beziehung zum Anderen zu schauen, während Schimpansen „ihre eigene Handlung aus einer Ersten-Person-Perspektive und die des Partners aus einer Dritten-Person-Perspektive“ verstehen.

Tomasellos These besagt also: Bevor so etwas wie Sprache entstehen konnte, musste es eine „geteilte Intentionalität“ geben. Der Mensch spricht, weil er ein soziales Wesen ist. So wie Kleinkinder im Alter von zwölf Monaten allmählich dazu übergehen, gemeinsames Handeln mit gesprochenen Wörtern, Sätzen und schließlich ganzen Erzählungen zu ermöglichen, so hat auch die Menschheit in ihrer Urgeschichte das Kommunizieren durch Gesten allmählich durch das Kommunizieren mittels der Stimme erweitert und schließlich ersetzt. Aus Körpergesten wurden Sprachgesten.

Diese „sozial-pragmatische Theorie des Spracherwerbs“ widerspricht vielen bisher vertretenen Ansichten. Tomasello wendet sich ausdrücklich gegen Noam Chomsky, der seit seinem Buch „Aspekte der Syntax-Theorie“ von 1965 die These verficht, die Grundstruktur aller menschlichen Sprachen (er nennt das „Universalgrammatik“) sei der Spezies angeboren. Der Vermutung, die Sprache sei entstanden, damit Menschen besser miteinander kommunizieren können, hat Chomsky heftig widersprochen: „Wenn wir garantieren wollen, dass wir einander niemals missverstehen, dann ist die Sprache für diesen Zweck sicher nicht gut geeignet, weil sie Eigenschaften wie Mehrdeutigkeit aufweist. Es passiert uns häufig, dass wir einfache Intentionen und Gefühle, die wir einem anderen mitteilen wollen, nicht auszudrücken vermögen“.

Auch Herder hat in seiner „Abhandlung über den Ursprung der Sprache“ von 1772 die These vom sozialen Zweck des Sprechens zurückgewiesen: „Am wenigsten ist’s Einverständnis, willkürliche Konvention der Gesellschaft; der Wilde, der Einsame im Walde hätte Sprache für sich selbst erfinden müssen, hätte er sie auch nie geredet. Sie war Einverständnis seiner Seele mit sich“. Für Herder ist die Sprache Ausdruck der Individualität, nicht soziales Kommunikationsmittel. Tomasello dagegen beruft sich immer wieder auf Ludwig Wittgensteins Satz: „Eine Sprache vorstellen heißt, sich eine Lebensform vorstellen“.

Wie aber steht es mit Hegel, in dessen Namen Tomasello diese Woche ausgezeichnet werden soll? Die Jury beruft sich auf Hegels Dialektik der Anerkennung, die besagt, dass der Einzelne nur dann ein Selbst- und Weltbewusstsein entwickeln kann, wenn er sich selbst im Anderen erkennt. Wer behauptet, genau darum gehe es auch Tomasello, der muss Hegel schon mit der Brille von Jürgen Habermas lesen, der in Stuttgart die Laudatio halten wird. Während bei Hegel diese wechselseitige Anerkennung erst das Resultat eines Kampfes auf Leben und Tod ist, in dem es um das „unendliche Recht des Subjekts“, die „Nacht der Welt“ und das „Verweilen beim Negativen“ geht, wird dieser Kampf bei Habermas und Tomasello geglättet.

Michael Tomasello: Die Ursprünge der menschlichen Kommunikation. Aus dem Englischen v. Jürgen Schröder. Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2009. 410 Seiten, 39,80 €.

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