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In der Schuldenfalle. Herr Flügel (Kay Dietrich) wird von seinen Gläubigern bedrängt.

© Metzner/Atze

Atze Musiktheater: Tasten, Thesen, Temperamente

Das größte Jugendtheater Deutschlands will für Kinder wie ein großer Bruder sein. Im neuen Stück geht es um Banken, Zinswucher und einen Pianisten. Ein Probenbesuch.

„Dietrich?“, ruft Thomas Sutter aus dem Dunkel des Zuschauerraums. „Der sucht noch seinen Schlips!“, antwortet eine weibliche Stimme von irgendwo weit hinten. Im hellen Arbeitslicht strahlt ein blauer Flügel auf der Bühne, dahinter ragt eine mit Notenblättern tapezierte Wand auf. Es gibt ein paar Hocker, drei Stehtische, das muss als Dekoration für die Uraufführung am Sonntag im Atze Musiktheater reichen. Links von der Spielfläche sitzt Sinem Altan am E-Piano, rechts hat schon der Cellist Nikolaus Herdieckerhoff Platz genommen. Und jetzt kommt endlich auch der Dietrich, also Dietrich Koch, Klarinettist und Querflötist.

Zu dritt spielen sie eine jazzige Melodie, ein paar Takte allerdings nur, dann tritt der Konzertpianist auf, Titelheld des Stücks „Herr Flügel und das blaue Piano“. Umständlich öffnet er seine Tür, erst die drei Schlösser mit einem großen Schlüssel, dann, rick, rack, ruck, nacheinander noch drei Riegel, alles pantomimisch natürlich. Draußen auf der Straße spricht er Passanten an, in die sich die Musiker mittlerweile verwandelt haben. „Auf Sie habe ich gewartet! Kommen sie doch herein, ich spiele Ihnen etwas vor: Bach, Brahms, Beethoven!“

Weil Herr Flügel keine Engagements hat, ist er auf die Geschäftsidee verfallen, in einem angemieteten Ladengeschäft Privataufführungen anzubieten. Doch keiner hat Lust, spontan hereinzukommen. Nur ein Mitarbeiter vom Bankhaus Kaufmann und Fröhlich, der dem klammen Herrn Flügel gleich einen Kredit aufschwatzt. Zwar beginnt das Geschäft danach zu florieren, doch Herr Flügel kann sich die Finger wund spielen – seine Zinsen wachsen stets schneller als seine Einnahmen.

Ein Theaterstück für Kinder ab acht über die Funktionsmechanismen des Geldkreislaufs in der turbokapitalistischen Gesellschaft? Für Thomas Sutter ist das kein Problem. „In der Schule lernt man Prozentrechnung – bei uns kann man sehen, wie das in der Realität funktioniert, wenn auf eine geliehene Summe immer neue Forderungen draufgeschlagen werden.“ Darum schwebt eine Zinsuhr über die Bühne, auf der jeweils der aktuelle Kontostand des Klavierspielers abzulesen ist. Schulden, Armut, Privatinsolvenz – durch die Nachrichten bekommen auch Grundschüler vieles mit. Die Zusammenhänge freilich vermögen sie kaum zu durchschauen. Da will Thomas Sutter mit seinem neuen Stück helfen. Spielerisch natürlich, über die Identifikation der kleinen Zuschauer mit den Nöten der Bühnenfiguren.

„Im Laufe der Jahre haben wir immer wieder erlebt, wie dankbar Kinder sind, wenn sie ernst genommen werden. Sie wollen nicht in ein plüschiges, buntes Kindertheater gehen. Ein anspruchsvolles Programm macht ihnen erst richtig Spaß.“ Thomas Sutter ist jetzt seit 26 Jahren dabei. Alles begann 1986 mit einem Kinderlied, das der auf musikalische Früherziehung spezialisierte Pädagoge für seine Tochter geschrieben hatte. Damit gewann er nämlich einen Preis des Kinderschutzbundes. „Als es hieß, ich solle das Stück live im WDR spielen, habe ich zwei Kollegen gebeten, mich zu begleiten – falls mir vor Lampenfieber die Finger versagen“, erzählt er.

Aus dieser Hilfsaktion entsteht eine Band, die sich Atze nennt, nach dem Berliner Ausdruck für „großer Bruder“ oder auch „bester Freund“. Genau das wollen die Musiker nämlich ihren kleinen Zuhörern sein: Mutmacher, Ratgeber, Vorbild auch. „Der Name drückt unsere Botschaft aus: Lasst euch nicht unterbuttern! Sagt, was ihr denkt und fühlt!“

Die Band nistet sich im Kreuzberger Jugendzentrum „Schatzinsel“ ein, wo sie vormittags Konzerte für Kindergärten und Schulklassen geben kann. 1988 gibt es erstmals Geld vom Senat, 1992 kommt man übergangsweise im Theater am Halleschen Ufer unter, dann beginnt eine Tingeltour durch diverse Spielstätten der wiedervereinigten Hauptstadt. 1996 schreibt Sutter mit „Steffi und der Schneemann“ sein erstes Musical, weil er mehr erzählen, sich noch intensiver mit seinen Figuren beschäftigen wollte, als das in einzelnen Liedern möglich ist. Das Stück wird ein Hit, weitere Musicals folgen – bis der Senat 1999 überraschend die Förderung einstellt. Das Atze-Team ruft zur Demo vor der Kulturverwaltung auf – und 3500 kleine wie große Fans kommen. SPD-Bürgermeisterkandidat Walter Momper wittert ein Wahlkampfthema, Grips-Gründer Volker Ludwig öffnet sein Haus nicht nur für Gastspiele der Kollegen, sondern vermittelt Atze auch den Kontakt zum Regisseur Herman Vinck, der mit viel gelobten Inszenierungen wie „Eine Woche voller Samstage“, „Ronja Räubertochter“ oder „Der Zauberkoffer“ die Theaterarbeit der Musikertruppe professionalisiert und so den Erfolg neuer Förderanträge sichert.

2002 kommt dann die große Chance: Atze kann den Max-Beckmann-Saal am U-Bahnhof Amrumer Straße übernehmen. Erst zwölf Jahre zuvor hatte der Bezirk Wedding das 1962 als Audimax der Technischen Fachhochschule errichtete Gebäude für fast fünf Millionen Euro zum Mehrzwecksaal umbauen lassen. Doch mit der kulturellen Nutzung klappt es nicht wie erhofft. Thomas Sutter greift zu – „naiv und angstfrei“, wie er rückwirkend einräumt. Mit gerade 170.000 Euro Senatsknete im Rücken startet Atze den Spielbetrieb im großen Saal mit 480 Plätzen. Aus der ehemaligen Uni-Mensa werden Büros und Lagerräume, bald kommt eine Studiobühne mit 150 Plätzen hinzu.

Mittlerweile erhält Atze 690.000 Euro vom Senat, bietet dafür 300 Veranstaltungen pro Jahr und erreicht in jeder Saison allein in Berlin gut 80.000 Zuschauer. „Nur zum Vergleich: Das Theater an der Parkaue bekommt 5,5 Millionen Euro, das Grips 2,7 Millionen, bei ungefähr gleichen Zuschauerzahlen“, sagt Sutter – um gleich darauf zu betonen, dass er sich nicht beklagen möchte: „Ich weiß, was für eine privilegierte Stellung ich habe. Welcher Theaterautor hat schon ein eigenes Haus?“

Seine Schauspieler kann er natürlich nur projektbezogen bezahlen, Festanstellungen haben nur die zwölf Mitarbeiter der Technik und des Managements. Fünfzig Prozent des Etats werden durch Eintrittsgelder, Tourneen und Vermietungen eingespielt, so einen Eigenfinanzierungsgrad haben in Berlin sonst nur die Philharmoniker. Dass die „Frau Holle“-Inszenierung des Atze Musiktheaters gerade den Ikarus-Preis des Jugendkulturservice gewonnen hat macht Sutter darum doppelt froh. „In dieser Stadt leidet Familientheater ja nicht gerade unter medialer Überaufmerksamkeit, da ist so ein Preis eine wohltuende Anerkennung.“

Auf der Bühne wird jetzt heiß diskutiert. Selbst kurz vor der Premiere haben die Schauspieler noch jede Menge Ideen. „Wenn alle mitreden, ist die Inszenierungsarbeit echt anstrengend“, stöhnt Sutter, der beim „Herrn Flügel“ nicht nur Text und Musik geschrieben hat, sondern erstmals auch Regie führt. „Dennoch ist es für mich der einzig mögliche Weg. Denn nur wenn die Mitwirkenden überzeugt sind, geben sie auf der Bühne auch Herzblut.“

Am Ende des Stücks wird übrigens der Gerichtsvollzieher bei Herrn Flügel auftauchen, um alles mitzunehmen, sogar das Instrument. Aber auch der Bankmitarbeiter wird arbeitslos, weil sich das Geldinstitut verspekuliert hat. Wie gut, dass Thomas Sutter mit Herrn Schlips und Frau Hose zwei fantastische Figuren erfunden hat, die das Prinzip Hoffnung verkörpern. „Das sind keine Schutzengel, die auftauchen, um bedrückte Seelen zu retten“, betont Sutter. „Sondern Helfer, die es einem ermöglichen, in Konfliktsituationen neue Kraft aus sich selbst heraus zu entwickeln.“ Also echte Atzen.

Atze Musiktheater, Luxemburger Str. 20, Premiere: 21. Oktober, 16 Uhr, wieder am 24. Oktober, 4.–6. und 18.–21. November sowie im Dezember.

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