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Kultur: Auch eine Art Avantgarde

Armut als Chance: Die mittellose Mittelschicht weiß in Berlin gut zu leben / Von Thomas Brussig

„Berlin ist arm, aber sexy“, sagte unser Regierender im Wahlkampf süffisant. Zugegeben: Auch ich habe es immer als einen Vorzug Berlins gesehen, dass du hier auch mit wenig Geld leben kannst. Diese Eigenschaft der Stadt könnte sie gerade im Hinblick auf die gegenwärtige Diskussion um das Prekariat (Tusch: Ein neues Wort, das kein Anglizismus und obendrein einleuchtend ist!) zu einem Modell machen, zur Avantgarde.

Eins ist klar: Auch in Berlin lebt es sich mit Geld besser als ohne, wie überall. Aber ich behaupte, dass es sich in Berlin mit wenig Geld immer noch viel besser leben lässt als in München, Düsseldorf oder Hamburg. Das wäre eine Binsenweisheit, wenn damit nur ein deutlicher Unterschied bei den Lebenshaltungskosten gemeint wäre.

Es ist gelegentlich von der „gefühlten Armut“ die Rede, und da Berlin die Eigenschaft hat, Armut nicht zu stigmatisieren, wird Armut weniger gefühlt und findet also weniger statt. Obwohl sie objektiv stattfindet: Fast jeder zweite Berliner, so weiß die Statistik, ist Empfänger von sozialen Transferleistungen.

Schauen wir auf München, Hochburg des Konsumterrors. Wie reich die Münchner sind, lässt sich an jedem Samstagnachmittag an der Kreuzung Leopold-, Ecke Franz-Josef-Straße beobachten: keine Grünphase, in der nicht ein Porsche über die Kreuzung rollt. Bevor eine Münchnerin das Haus verlässt, muss sie sich eine Stunde vor dem Spiegel zurechtmachen, und wenn sie Sachen trägt, die drei Jahre alt sind, riskiert sie, dass die Nachbarschaft über sie redet.

Da ist Berlin anders. Dem aufgezickten Kapitalismus wird die kalte Schulter gezeigt. Wer keine Garage hat, wagt gar nicht die Anschaffung eines Porsches, und niemand – außer vielleicht den Zugereisten – interessiert sich dafür, in welchen Klamotten du rumläufst. (Wie Berlin mit dieser Haltung zu einer Modemetropole aufsteigen will, ist mir schleierhaft.) Eine tonangebende Oberschicht gibt es hier nicht; die hiesigen Schwerreichen und Großverdiener scheinen mit der Gabe des gekonnten, stilvollen Geldausgebens und Reichtum-zur-Schau-Stellens zu fremdeln. Ein Distinktionsadel hat sich in Berlin nicht ansiedeln können. Schon wer sich eine Sonnenbrille für 100 € kauft, wird für bekloppt gehalten.

Doch die Gleichgültigkeit gegenüber den teuren Dingen, an der die Freunde der schönen Lebensart, die Ästhetisierungsmissionare und Bonvivants schier verzweifeln, ist in einer Situation, in der angesichts der Prekarisierung der Lebensverhältnisse die Karten neu gemischt werden, ein Standortvorteil. Wenn die stilvolle Verarmung zur neuen Massenbewegung wird, lohnt sich ein Blick in Verhältnisse, in denen eine vitale Öffentlichkeit längst unter Einschluss breiter Schichten stattfindet, die statistisch als „von Armut betroffen“ gelten. Denn genau das geschieht in Berlin schon seit Jahren.

Ich behaupte: Wer auf Zigaretten und Handy verzichtet und kein Suchtproblem hat, kann in Berlin gar nicht so arm sein, dass er nicht am öffentlichen Leben teilnehmen kann. Gewiss wird es nicht für die Samstagabendvorstellung reichen – aber es gibt Kinos, in denen Karten 4 € kosten. Das Frühstücksbuffet am Prenzlauer Berg ist etwa im Café „An einem Sonntag im August“ für 2,50 € pro Gast zu haben. BVG-Fahrscheine, die noch eine Stunde gültig sind, werden zwar nur vereinzelt auf die Stempelautomaten oder in die Ausgabefächer der Fahrkartenautomaten gelegt – aber wehe der BVG, wenn das illegale Mehrfachnutzer-Ticket von der Mundpropaganda oder von Wladimir Kaminer massiv propagiert wird! (Für derlei Initiativen ist der Berliner ja empfänglich, so empfänglich, dass der BVG nichts anderes übrig bleiben dürfte, als auf Drehkreuze umzustellen.) – Will das Prekariat ins Theater, kann es sich eine 5 €-Karte für den zweiten Rang kaufen und sich ins halb leere Parkett setzen – ohne dass eine Platzanweiserin was dagegen hat. Der Mantel wird über den Schoß gelegt, wobei der Eindruck zu erwecken ist, dies täte man nicht etwa, weil man das Geld für die Garderobe nicht hat, sondern nur, um sich das Gerammel nach der Vorstellung zu ersparen. Und selbst die Opernaufführung, das bürgerliche Kulturerlebnis überhaupt, ist in Berlin für 5 Euro zu haben.

Wer mehr über Leben und Alltag unserer intellektuellen Reservearmee erfahren will, sollte mal eine Lesebühnenveranstaltung besuchen. Als Stoff benutzt sich das Prekariat schon längst – und in ganz wenigen Fällen gelang es Autoren sogar, sich gleichsam an den eigenen Haaren aus dem Sumpf zu ziehen.

Solche Erfolgsgeschichten sind eher selten. Die graue Wahrheit bleibt bestehen: Berlin ist pleite. Nicht nur die kommunalen Kassen sind leer – auch die Bevölkerung hat im bundesweiten Vergleich beinahe den höchsten Überschuldungsgrad: Jeder siebte Haushalt gilt als überschuldet. Die Arbeitslosigkeit ist hoch, die Akademikerarbeitslosigkeit erst recht. Während es im Bundesdurchschnitt vier Prozent arbeitslose Akademiker gibt, sind es in Berlin zehn Prozent. Dass die Armutsschicht in Berlin auch durch arbeits- und/oder mittellose Akademiker gebildet wird, hat eine traurige Tradition. Denn eigentlich gehört der Akademiker zur Mittelschicht. Auch wenn der Input, den die berufliche Tätigkeit leistet, durch nichts zu ersetzen ist: Der mittellose Akademiker stemmt sich gegen den Sturz ins Nichts, und in Berlin hat er gute Chancen. Und das nicht, weil die Lebenshaltungskosten relativ niedrig sind, sondern weil die Stadt der Situation Rechnung trägt, dass hier die Mittelschicht teilweise mittellos ist. All die Praktikantinnen, die ihr wievieltes unbezahltes Praktikum machen, all die arbeitslosen Schauspieler kommen nicht nur irgendwie über die Runden. Sie stehen mitten im Leben. Und wenn es sonst nicht viel Gutes über die Lebensart in Berlin zu sagen gibt – dass Berlin weder Geschmack noch Manieren hat, stimmt ja –, aber diese eine Lektion können Hamburg, München usw. von Berlin lernen, gerade in Zeiten, in denen die Angst vor dem Abstieg grassiert: Dass Abstieg nicht Ausschluss ist und man zwar arbeits- und mittellos werden kann – und trotzdem irgendwie Mittelschicht bleibt.

Wenn Teile der Mittelschicht in Deutschland nach unten rutschen, werden sie in etwa da landen, wo sie in Berlin bereits heute sind. Insofern stimmt es gar nicht, dass „die Mittelschicht nach unten rutscht“, nein, die Armut kriecht hoch. Oder sie fällt Teile der Mittelschicht an. Aber Armut verwandelt den Akademiker nicht in Unterschicht.

Natürlich bedeutet Armut auch in Zukunft, dass jeder Fuffziger dreimal umgedreht wird. Doch damit ist das Schlimmste über die Armut schon gesagt. Es ist kein Automatismus, dass Armut zugleich Stigma, Ausschluss, Persönlichkeitsverlust oder Selbstaufgabe bedeutet. Es ist ein schwieriges Leben in Armut, gewiss. Armut ist bitter, gewiss. Aber Armut ist nicht das Ende. Das ist Berlins Beitrag zur Prekariatsdebatte.

Die Mentalität Berlins ist – und das meine ich ernst – eine Art soziales Sicherungssystem. Berlin bietet Chancen nach unten. Und das gehört sich auch so. Denn es gibt so viel brachliegendes oder zur un- oder minderbezahlten Arbeit verurteiltes Talent, dass die bekannten Forderungen, sich über Eigeninitiative, Flexibilität und Mobilität ein Teilhaben am öffentlichen Leben zu „verdienen“, der blanke Hohn sind. Der Arbeitsmarkt gibt das einfach nicht mehr her, und wenn ich die Zeichen richtig deute, lässt sich Armut kurzfristig nicht abschaffen. Deshalb muss ihr die lähmende, destruktive Komponente genommen werden, und Berlin könnte zeigen, wie’s geht.

München bleibt die Hauptstadt der schönen Lebensart – für alle, die Geld haben. Berlin jedoch hat das Zeug, die Hauptstadt der mittellosen Lebensart zu werden.

Thomas Brussig, 1965 geboren, ist Schriftsteller und lebt in Berlin. Zuletzt von ihm erschienen ist der Roman „Wie es leuchtet“ (S. Fischer)

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