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Kultur: Auf europäischen und deutschen Bühnen endet eine Ära

Von München bis Hamburg inszenieren Regisseure ihre Endspiele, lösen sich bekannte Ensenbles auf. In Berlin aber wartet man auf die Wiederkehr des SchauspielersPeter von Becker Es ist ein Herbststurmstück, ein Vorwinterdrama, dieses nie ganz enträtselbare, von Alterswahnsinn, Vatermord und Töchterfluch, von größter Grausamkeit und schier unbegreiflicher Zärtlichkeit handelnde Schauspiel des "König Lear".

Von München bis Hamburg inszenieren Regisseure ihre Endspiele, lösen sich bekannte Ensenbles auf. In Berlin aber wartet man auf die Wiederkehr des SchauspielersPeter von Becker

Es ist ein Herbststurmstück, ein Vorwinterdrama, dieses nie ganz enträtselbare, von Alterswahnsinn, Vatermord und Töchterfluch, von größter Grausamkeit und schier unbegreiflicher Zärtlichkeit handelnde Schauspiel des "König Lear". Immer wieder fegt Laub durch die Szene, öffnen sich Türen und Falltüren in Jürgen Roses Bühnenbild: einer grandios einfachen, zur Rampe hin aufgeschnittenen Bude aus Holz, Leim, Pappmaché, in der die ganze Welt Raum hat und alles Theater seinen Platz. Hier steigen und stürzen die Menschen, dann fällt, nach 103 Vorstellungen, der letzte Vorhang für diesen "Lear" an den Münchner Kammerspielen, den Dieter Dorn inszeniert hat, Premiere im Februar 1992 - und aus, für immer. Am 31. Dezember. So endet mit dem Jahr und Jahrhundert auch eine nun wirklich einmal "Ära" zu nennende Zeit des deutschen, des europäischen Theaters. Nie wieder wird der bald 80jährige Rolf Boysen als vollkommen nackter, bis in die Seele entblößter Lear dem Höllengewitter in der Heide trotzen; nie mehr wird Thomas Holtzmann, der gefolterte und geblendete Gloster, am vermeintlichen Abgrund, am Rand der Klippen von Dover, aus seinen blutig leeren Augenhöhlen ins Weltall blicken, erfahrener und weitsichtiger als je ein Mensch seit Hiob.

Das sind Momente der Entäußerung und Verdichtung, wo Theater zum Inbild wird allen Lebens, bis heute. Diese Geschichte vom Herrscher, der plötzlich aus der Allmacht in die Ohnmacht stürzt und ein Täteropfer seiner Töchter wird, sie ist größer als die von Helmut Kohl und Angela Merkel, aber sie trifft. Solche Szenen allerdings gibt es auf einer Berliner Bühne seit Jahren nicht mehr zu sehen. Und sie werden fast überall rar.

Das Ensemble der Münchner Kammerspiele, das unter Orchestern vergleichbar wäre mit den Berliner Symphonikern oder im Fußball dem F.C. Barcelona, spielt am Silvesterabend ein Finale auch des gegenwärtigen deutschen Theaters. Ab 1. Januar bleibt das berühmte Jugendstilhaus an der Maximilianstraße für zweieinhalb Jahre wegen Sanierungsarbeiten geschlossen, ab Mai 2000 wird Dieter Dorns Truppe in kleineren Formaten noch ein Jahr auf Behelfs- und Probebühnen im neu erbauten Hinterhaus auftreten, dann endet Dorns Intendanz - und Frank Baumbauer aus Hamburg übernimmt, auf einer Baustelle, die Leitung des Theaters. Mindestens ein Teil des Ensembles wird sich bis dahin auflösen, zum Film und Fernsehen gehen und in andere Theater. Shakespeare Inszenierungen wie jener "Lear" oder Dorns dieser Tage gleichfalls zum letzten Mal mit Ovationen gefeierte "Cymbeline" sind dann kaum mehr denkbar. Das Ensemble - es waren einmal Boysen und Holtzmann, Gisela Stein, Doris Schade, Christa Berndl, Sunnyi Melles, Rudolf Wessely, Lambert Hamel, Michael von Au, Axel Milberg, Edgar Selge, Franziska Walser, Jörg Hube und manche mehr.

Eine andere Zäsur, vor einigen Wochen: die letzte Vorstellung der Überreste des Stein- und Breth-Ensembles in der Berliner Schaubühne. Dort gab es einmal Jutta Lampe, Edith Clever, Libgart Schwarz, Corinna Kirchhoff, gab Otto Sander, Peter Simonischek, Udo Samel und früher noch Bruno Ganz. Nun wagen die Jungen, Thomas Ostermeier und Sasha Waltz, den völligen Bruch, den radikalen Neuanfang. Ohne Stars, ohne ältere Spieler. Mit fast ebenso jungen Akteuren hatte vor zwanzig Jahren auch Peter Stein begonnen- aber seine Spieler doch ab und an auch mit so großen Alten wie Therese Giehse oder Peter Lühr konfrontiert (auch die in Berlin damals Gästevon den Münchner Kammerspielen), hatte sie im Zusammenspiel lernen lassen von einer größeren Kunst und Menschenkenntnis.

Soeben hat auch Jürgen Flimm nach anderthalb Jahrzehnten im Hamburger Thalia Theater seine letzte Vorstellung inszeniert, Tschechows Elegie der "Drei Schwestern". Viele Abschiede.

Fraglich, ob unter Flimms Nachfolger Ulrich Khuon aus Hannover das Thalia-Ensemble, zu dem noch Will Quadflieg und Elisabeth Schwarz und ein paar tolle jüngere Spieler wie Annette Paulmann und Stefan Kurth gehören, beisammen bleiben wird. Und nebenan, im Hamburger Schauspielhaus, der größten deutschen Bühne, könnte 2001, wenn Frank Baumbauer nach München geht und sein Regie-Magnet Christoph Marthaler das Schauspiel Zürich übernimmt, die Zeit des Ensemble- und Repertoiretheaters zu Ende gehen. Mit Tom Stromberg nämlich als künftigem Intendanten tritt in Hamburg ein bisher fast nur als Event-Manager und Gastspieleinkäufer oder internationaler Coproduzent hervorgetretener Mann die Nachfolge von Gründgens und Zadek, von Ivan Nagel und Baumbauer an. Stromberg, derzeit noch für das Kulturprogramm der Hannoverschen "Expo" verantwortlich, wird es schwer haben, die künstlerische Mitte eines jeden Abend spielenden Hauses mit über 1400 Plätzen zu bilden und einem (bisher) erstklassigen festen Ensemble Halt zu geben. Das fällt ohnehin immer schwerer: wenn Intendanten nicht selber Regisseure und damit für Schauspieler die geborenen Verführer sind und zugleich die Ablenkung wächst durch Rollenangebote im Fernsehen, die vor allem jüngere Schauspieler selten künstlerisch weiterbringen, dafür aber die Gage pro Drehtag einem Theater-Monatsgehalt entspricht.

Wofür werden die deutschen Stadt- und Staatstheater bis heute so weltweit unvergleichlich hoch subventioniert? Damit sie durch das Repertoire ihrer unterschiedlichen Stücke dem Publikum eine Reise nicht nur pauschal zu einem (en suite immergleichen) Spielort anbieten, sondern Streifzüge durch möglichst viele Kontinente des Welttheaters und so Begegnungen und Erfahrungen mit Menschen, Geschichten, Kulturen vieler Zeiten ermöglichen. Und nur mit größeren, festen Ensembles, nicht allein mit Gastspielern, sind auch jene personenreichen Dramen aufführbar, in denen Shakespeare und Molière, Schiller, Goethe und Büchner, Schnitzler oder Botho Strauß von den Abenteuern der Menschheit erzählen. Ohne Ensembles und unter rein kommerziellen Bedingungen, am Broadway oder im Londoner West End, sind daher Klassiker oder großformatige zeitgenössische Stücke nicht mehr möglich.

Wo aber sind sie in Berlin, wo es mehr subventionierte Theater gibt als in jeder anderen Stadt? Frank Castorfs Volksbühne, die seit Jahren vitalste Bühne am Ort, lebt von ihren Spezialitäten. Von einer Spielart ironisch-zynisch-klamaukigem Großstadt-Volkstheater, das auf dem manchmal scharfen, manchmal platten Grat zwischen Hochkunst, Kabarett und Slapstick balanciert - garniert bisweilem mit dekonstruktivistischem Quark. Uns als Antipoden der Volksbühne Ost starten an der Schaubühne West in vier Wochen Ostermeier & Waltz: mit durcherzählten scharfen Zeitstücken und mit dem Körpertheater der Choreographin Sasha W. Auch das sind Spezialitäten, hoffentlich.

Dazwischen aber müßten zu einem hauptstädtischen Theaterpanorama auch andere Erzählweisen gehören, in der Spanne und Spannung zwischen Sophokles und Shakespeare, Goethe und Kroetz, Kleist, Tschechow und Dorst. Aber im Deutschen Theater von Thomas Langhoff gibt es derzeit keine neuere Inszenierung, die eine weite Theaterreise wert wäre, keine Aufführung, die - wie "Berlin Alexanderplatz" im kleineren Maxim Gorki Theater von Bernd Wilms - wenigstens ansatzweise zum Stadtgespräch reizen würde. Dabei liegt das nicht so sehr an den Stücken oder Regisseuren, es fehlen vielmehr in Berlin die nicht nur zahlenmäßig großen Ensembles und die stücktragenden Spieler. Auch hierbei ist "Berlin Alexanderplatz" mit Ben Becker eine Ausnahme. Man muss daran erinnern: Das einstmals grandiose Ensemble des Schillertheaters ist ausgestorben oder in alle Theaterwinde verweht. Kein Ulrich Mühe spielt mehr am Deutschen Theater, Schauspieler wie die Lampe, Schwarz und Clever, wie Elisabeth Trissenaar, Angelica Domröse und Hilmar Thate, wie Schmidinger und Samel und Sander, die alle in Berlin leben, kriegen in den Häusern der einstigen Theatermetropole nur noch ausnahmesweise oder überhaupt keine Angebote mehr. Das ist ungefähr so, wie wenn Hollywood auf Marlon Brando, Robert De Niro, Meryl Streep, Glen Close und Jack Nicholson absichtlich verzichten würde. Um den Kontrast nochmals klarzumachen: Demnächst inszeniert Luc Bondy am Wiener Burgtheater Tschechows "Möwe" mit Jutta Lampe als Arkadina, Gert Voss als ihrem Geliebten, dem Schriftsteller Trigorin, mit den beiden jungen deutschen "Nachwuchsschauspielern des Jahres", mit Hans Diehl und Johanna Wochalek als Kostja und Nina, dazu mit Walter Schmidinger als altem Sorin. Für ein Spitzentheater eine erwartbar erstklassige Besetzung - doch auf diesem Niveau zur Zeit auf keiner Berliner Bühne auch nur annähernd denkbar. Hier anzuknüpfen, hier die Messlatte wieder hochzulegen, ist jetzt Claus Peymanns große Chance für seinen Beginn am Berliner Ensemble. Dort weisen die für Januar angekündigten Spieler wie Peter Fitz, Sepp Bierbichler, Rufus Beck, Traugott Buhre, die Gastauftritte von Kirsten Dene und ein mit Martin Wuttke geplanter "Hamlet" immerhin in die richtige Richtung. Thomas Langhoff am Deutschen Theater und bald seinem Nachfolger Bernd Wilms müßte das zur Herausforderung werden. Sonst zerfällt es euch nur weiter.

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