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AUF Schlag: Das Drama der Meerjungfrauen

Moritz Rinke über Theater, Fische, Gräten, Restflossen und Weltekel

Ich saß im „Sturm“ von Shakespeare. Also, Shakespeare stand zwar draußen auf dem Plakat, aber drinnen gab es ihn nur im groben Ablauf. Ich stellte mir Shakespeare als Fisch vor, den man im Restaurant bestellt und dann kommt eine kalte Wirbelsäule mit Gräten und einer Flosse. „Entschuldigen Sie, wo ist denn der Fisch?“

„Wieso, das ist doch Fisch, gucken Sie mal hier, die Flosse!“

„Ja, ja, aber die hat doch nur eine Funktion, damit der Fisch irgendwo ankommt, was soll ich nur mit der Flosse, wenn ich Fisch will? Bringen Sie mir bitte Fisch mit was um die Gräten rum!“

„Nee, machen wir nicht! So wie Sie Fisch wollen, läuft das nicht! Lächerlich! Stecken Sie sich die Flosse in den Mund und stellen Sie sich vor, wie Fisch ist, Sie wissen doch, wie Fisch ist, Sie Dödl! Sie Kassenbongucker!“

So ein innerer Dialog macht mir echt zu schaffen. Die Aufführung war längst vorbei, aber ich suchte immer noch nach Argumenten in meinem nervtötenden Selbstgespräch über Shakespeare als Fisch.

„Häh??, aber warum schreiben Sie denn dann Fisch auf Ihre Karte? Sie müssen schreiben: Gräten mit Flosse! Fisch bitte vorher zu Hause essen und Geschmack merken! Wissen Sie, welchen Verdacht ich schon seit langem habe? Sie schreiben FISCH auf Ihre Karte, damit jeder sehen kann, wie originell Sie sind, wenn Sie dann mit Ihrer Rest-Flosse hier antanzen! Wie mich das nervt! Meinen Sie denn, der Fisch findet das lustig? Dann erfinden Sie doch mal einen eigenen Fisch! Servieren Sie etwas, was wirklich von Ihnen ist, wenn Sie schon so originell sind! Aber nein, Sie hängen sich immer noch schön an die Gräten dran und an die Flosse! Ich weiß schon, wie Sie das in der Küche nennen: dekonstruierter, gebrochener Fisch, postdramatischer Fisch! Aber warum dann überhaupt noch Fisch? Servieren Sie uns doch einfach gleich das, was in Ihren Augen nach dem Fisch kommt! Ich bin für jedes eigene neue Gericht offen! Ich warte!“

Als ich an der Bar stand, kam der RBB und sagte: „45 Jahre Theatertreffen, man sagt, es sei in der Midlife Crisis, wie sehen Sie das?“ – „Ach, ich bin gerade mit Fischen beschäftigt. Hmm. Heißt Midlife Crisis nicht innere Grübeleien, Isolation, Weltekel?“

„Ja, so kann man das sagen“, sagte der RBB. – „Ja, also dann hat das Theatertreffen keine Midlife Crisis, sondern nur ich. Mehr habe ich nicht zu sagen. Ich isoliere mich jetzt hier an der Bar, grübele und empfinde Weltekel.“

In der Entfernung sah ich den Schauspieler Thomas Schmauser (Caliban). So ein wunderbarer Schauspieler, dachte ich. So wache Augen, so eine Beweglichkeit, so ein Wahnsinniger. Hat man mit solch einem Schauspieler nicht Gegenwart genug?

Es gibt einen Gedanken von Ionesco, dass das Theater die Einführung eines Außerzeitlichen in die Zeit verlange. Für mich ist dieses Außerzeitliche die Sprache der Dramatiker, deren Stücke man sich vornimmt – also, deren Vorlagen man heute rannimmt.

„Wissen Sie, was ich glaube?“, habe ich noch dem RBB gesagt: „Shakespeare ist eine Meerjungfrau. Ein Dramatiker ist eine Meerjungfrau. Eine Meerjungfrau ist etwas sehr Schönes, aber zu ihr ins Wasser, um dort zu leben, kommen nur noch wenige. Wenn sich die Meerjungfrau trotzdem verlieben will, dann muss sie ans Land, aber da kann sie eigentlich auch nicht leben. Also pendelt sie immer zwischen Land und Wasser und ich fürchte, dass sie dabei unglücklich wird.“

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