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AUF Schlag: Die Gespenster von Worpswede

Moritz Rinke zum 100. Todestag von Paula Modersohn-Becker

Wenn ich auf Reisen in Hotelzimmern schlafe und Bilder mit Landschaften sehe, hänge ich sie ab. Einmal, in Essen, stellte ich ein Ölbild mit einer sehr flachen Landschaft, auf der auch einige bäuerliche Figuren zu erkennen waren, ins Badezimmer. Nach dem Duschen trat ich aus Versehen in die Landschaft, so dass mein Fuß auf der anderen Seite wieder herauskam. Die Kosten dieser Demolierung rechne ich noch heute meiner Kindheit in Worpswede an. Meine ganze Kindheit ist quasi zugestellt mit flachen Moorlandschaften, Bauern und stimmungsvollen Himmeln. Wo man hinkommt, wird man begrüßt als Künstler aus Worpswede! „Na ja, da kann er ja auch nicht anders?“ „Haben Sie denn auch gemalt?“ „Malten Sie denn auch das Moor?“

Meine Eltern brachten mich oft in das Haus meiner Tante in der Hembergstraße. Es war aus Holz, hellblau angestrichen, und ich spielte mit meiner Cousine im Kinderzimmer. Paula Modersohn-Becker lebte hier früher, und oft pressten Touristen ihre Nasen gegen das Fenster, um zu sehen, wie die berühmte Malerin gelebt hat und wer da jetzt wohl malt. Wir malten aber nicht, sondern bauten Lego oder schlugen mit der Fliegenklatsche auf die Scheibe, wo die Nasen klebten. Auch beschlossen wir, bloß nicht Maler zu werden, wir beide fanden Kompromisse, sie wurde Gärtnerin im Moor, ich Schriftsteller in der Großstadt, aber das Leben von Paula Modersohn-Becker in Worpswede hat mich trotzdem immer tief berührt.

Nie hat sie einen einzigen Touristen für ihre Malerei gesehen, vielleicht schlug ich auch deshalb mit der Fliegenklatsche auf die Touristen, weil sie zu spät kamen. Touristen kommen immer erst dann, wenn etwas so berühmt ist, dass das Klischee die Kunst überlagert. Ein Klischee ist zum Beispiel, dass es ohne Worpswede diese Paula nicht gegeben hätte; dass ohne Land und Boden und Bauern diese Seelentiefe nicht möglich gewesen wäre. Ich glaube etwas anderes. „Wie schauderhaft muss es Künstlern zumut sein, die ohne Widerhall arbeiten“, bemerkte Käthe Kollwitz. Paulas Abende mit dem einstigen Lehrer, dem eintönigen Mackensen, der mit Hängen und Würgen seine Moormotive malte, mit erbgesunden Familien, später dann U-Boot-Kommandanten, die in britische Gewässer vorstoßen. Paulas Ehe mit dem zwar meisterlichen Ehemann, der allerdings den einsilbigen Kunstauffassungen des Nationalsozialisten Langbehn anhing, wonach große Kunst lokal, nichts als lokal zu sein habe, so eine Mischung aus Agrarromantik und dem Geist der Scholle plus Wolkenprosa. Paulas Ablehnung durch die anderen Kolonialisten Worpswedes, die auch alle lokal, nichts als lokal sehr schön das Moor malten.

Paula hätte sich in Rodin verlieben müssen, in Maillol oder mit Clara Westhoff in Paris bleiben sollen, um sie auch gleich vor Rilke zu retten. Clara und Paula in einer WG in Paris, die Kunstgeschichte wäre jetzt noch reicher. Aber Modersohn reiste ihr nach, Worpswede reiste ihr nach, heute begreife ich das: Jedem Künstler reist Worpswede nach, manchmal sogar bis nach Essen ins Badezimmer, in dem man dann harmlose Flachlandschaften demoliert.

Paula war vielleicht die einzige wirklich bedeutende Worpsweder Malerin um jene Jahrhundertwende, bezeichnenderweise hat sie es dort nicht ausgehalten. Der wundervolle Heinrich Vogeler ging viel zu spät und dann in die falsche Richtung! Auch Rilke hatte sich – zu spät für Clara Westhoff – von Worpswede abgewandt hin zu Rodin, dann zu Cézanne. Paula wandte sich über Manet und Monet zu Gauguin und van Gogh. Und leider hatte sie Cézanne nicht mehr ganz verarbeiten können. Was wäre also aus Paula noch alles geworden, wenn nicht ihre Ehe sie gehalten hätte und die Schollengeister. In dem Haus in der Hembergstraße hing das Bild „Selbstbildnis vor Fensterausblick auf Pariser Häuser“, es hing eine ganz Kindheit lang über unseren Worpsweder Legosteinen.

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