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AUF Schlag: Stadt der Hühner

Moritz Rinke über die Verwandlung der Berlinale-Menschen in Tiere

Ganz zum Schluss schreibe ich jetzt auch einmal etwas über die Berlinale. Mir ist nämlich klar geworden, dass die Berlinale aus den Menschen Hühner macht. Zuerst ist mir das bei der Eröffnung aufgefallen. Ich habe mich sehr schön mit einem Schauspieler unterhalten, dessen Kopf aber plötzlich anfing, nach rechts und links hin und her zu zucken. Ich fragte ihn, ob alles in Ordnung sei, doch er sagte nur: „Sag mal, ist das Rolf Zacher?!“ – „Weiß ich nicht“, antwortete ich, „wer soll denn das sein, Rolf Zacher?“ Aber der Kopf des Schauspielers zuckte schon zur anderen Seite: „Hilary Swank mit Stefanie Stappenbeck, wie kommt denn die Stappenbeck an die Swank ran?!“ – „Weiß ich nicht!“, antwortete ich, „wie geht’s dir denn eigentlich?“ – „TABATABAI!“, schrie er. Wir haben das dann abgebrochen.

Zwei Tage später war ich noch einmal auf der Berlinale, beim NRW-Empfang in der Landesvertretung. Der Schauspieler war auch da, er stürzte sich geradezu auf mich, dann fing wieder sein Kopf an zu ruckeln. Wenn er mich beim Sprechen nicht anguckt, dachte ich, dann muss ich ihn ja beim Sprechen auch nicht angucken und ruckelte nun ebenfalls mit dem Kopf umher, wobei mir auffiel, dass überhaupt alle Menschen mit dem Kopf umherruckelten, so als würden sie ihr Gegenüber nur als Überbrückungsstation benutzen, um schon ein nächstes, viel wichtigeres Kontaktgespräch vorzubereiten. Dieses schnelle Umherzucken des Kopfes hat bei den Hühnern mit der fehlenden Überschneidung der Blickfelder zu tun. Als ich Kind war, lebten wir auf dem Land mit Hühnern. Wenn ich die Hühner füttern sollte und einem Huhn in die Augen sah, dann hatte ich das Gefühl, rechts und links neben mir steht noch jemand, von dem das Huhn sein Futter kriegt. So war das auch bei der Eröffnung der Berlinale und beim NRW-Empfang.

Wir hatten damals vier Hähne. Ich will sie nicht mit den Rolling Stones vergleichen, aber mein Vater war der Meinung, wir müssten sie kastrieren, „wohin denn mit den ganzen Hühnern?“, seufzte er, aber für meine Mutter kam Kastration nicht in Frage. Hauptsächlich hatten wir Hennen. Und da ich ungefähr der Einzige war, der die Hennen halbwegs unterscheiden konnte, wusste ich auch, welcher Hahn gerade was mit welcher Henne hatte. Hühner haben eine relativ flexible Hackordnung, aber wenn ich mit den Körnern kam, war es oft so, dass einer der Hähne eine Henne vorschickte, die dann mit ihm zusammen vor den anderen fressen durfte. Ich fragte mich früher sogar, ob manche Hennen solche Paarbeziehungen eingehen, nur um damit Privilegien zu erhalten und eher an die Körner zu kommen. Sie taten immer so, als sei es die große Liebe, und stürzten sich dann auf die Körner.

Was hat das mit der Berlinale zu tun? Vielleicht nichts, außerdem hatten wir ja nicht mal Seidenhühner, sondern Friesenhühner, die typischen Landhühner mit dunkelorangeroten Augen und einer Legeleistung von 160 Eiern, die sind auch sehr beliebt bei Hühnerfleischproduzenten.

Wir haben unseren Hühnerstall aber nie in VIP-Bereiche unterteilt wie auf den Berlinale-Empfängen. Offensichtlich haben die Menschen das Bedürfnis, überall besser zu sein als die anderen. Es ist ja schwer, überhaupt auf einen Berlinale-Empfang zu kommen, aber kaum ist man drin, fangen sie drinnen wieder an, Sonder-VIP-Räume abzugrenzen, also Super-VIP-Zonen zu errichten, in welche die Nur-VIPs nicht reindürfen.

Das ist eigentlich das letzte Bild, das ich von der Berlinale habe: Irre ruckelnde und zuckende Köpfe in der Super-VIP-Zone, die ab und an auf die ebenso ruckelnden und zuckenden Köpfe in der Nur-VIP-Zone gucken und dabei müde herüberlächeln mit dunkelorangeroten Augen, während die anderen sich damit abfinden müssen, dass die Hackordnung nie, aber auch niemals im Leben endet und sie vermutlich sowieso bald an Geflügelpest sterben.

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